Die Orgel der Pfarrkirche La Madeleine in Paris

 

Ludwig XV.ließ 1763 die alte Magdalenenkapelle des 1722 eingemeindeten Dorfes La Ville l'Évêque nach Plänen des Architekten Contant d'Ivry durch ein neues Gotteshaus ersetzen, das die neu angelegte Rue Royale abschließen sollte. Doch verzögerten sich die Bauarbeiten, die schließlich bei Ausbruch der Französischen Revolution vollständig eingestellt werden mussten . Zu diesem Zeitpunkt waren nur Teile des südlichen Portikus vollendet.

Nach verschiedenen Nutzungsvorschlägen (Bibliothek, Oper, Börse oder Museum) beschloss Napoleon 1806, das Bauwerk als Ruhmestempel für die Grande Armée weiter bauen zu lassen. So entstand nach Plänen des Architekten Pierre Vignon in Anlehnung an antike Vorbilder ein großartiger Tempelbau mit 108 m Länge und 43 m Breite, der mit großen Freitreppen und 52 korinthischen Säulen konzipiert wurde. In seinem Innenraum sollten die Namen der Soldaten verewigt werden, die Napoleon auf seinen Feldzügen begleitet hatten.

Wegen der immensen Ausgaben für dieses Bauwerk, das allein dem Ruhm dienen sollte, entschied Napoleon 1813, den Bau doch einer kirchlichen Nutzung zu überlassen, worauf Pierre Vignon den Innenraum neu gestalten musste. Erst 1842 konnte schließlich die Kirche Sainte-Marie-Madeleine durch Vignons Nachfolger Jean-Jacques Huré vollendet werden. An ihrem Äußeren deutet nur das 1833 von Lemaire geschaffene Giebelrelief des jüngsten Gerichts darauf hin, dass es sich um einen Sakralbau handelt, der sich jenseits der Seine in der strengen Tempelfassade des Palais Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung, widerspiegelt.

Noch vor der Fertigstellung des Gotteshauses beschloss der Kirchenvorstand von Sainte-Marie-Madeleine im Oktober 1838 den Bau einer großen Orgel. Er wandte sich an den 1770 geborenen Orgelbauer Alois Mooser aus Freiburg in der Schweiz, der in seiner Heimatstadt 1824 bis 1834 für die Kirche Saint-Nicolas ein vielbeachtetes Werk mit 62 Registern auf vier Manualen und Pedal geschaffen hatte. Doch Mooser starb 1839, woraufhin 1841 ein Wettbewerb um den Bau einer Orgel in La Madeleine ausgeschrieben wurde. An diesem Wettbewerb beteiligten sich Aristide Cavaillé-Coll, Louis-Paul Dallery, John Abbey, Augustin Zeiger, Larroque und die Firma Daublaine & Callinet, deren Projekte von einer Kommission unter Vorsitz des Barons Armand-Pierre Séguier geprüft wurden. Cavaillé-Coll erhielt den Auftrag für das neue Instrument, dessen zweigeschossiger Prospekt von Bildhauer Marneuf und Tischler Lindemberg ausgeführt wurde.

In dieses Gehäuse baute Aristide Cavaillé-Coll in Zusammenarbeit mit seinem Vater Dominique bis 1846 eine Orgel ein, die auf vier Manualen und Pedal 48 Register mit mechanischer Traktur (Barkerhebel) erhielt. Sie verfügte über den ersten freistehenden Spieltisch im Schaffen des jungen Orgelbauers, der hier im Gegensatz zu späteren Instrumenten eine neuartige (im Vergleich zu seinen späteren Werken jedoch noch "unvollkommene") Disposition verwirklichte: die Register Voix céleste 8' (das erste Register dieser Art in Frankreich) und Basson-Hautbois 8' standen noch nicht im erstmals eigenständigen Schwellwerk, sondern im nicht schwellbaren Positiv. Außerdem fehlten Einzelaliquoten und Mixturen mit Ausnahme einer Quinte 2 2/3' und eines zehnfachen Plein-jeu-classique des Grand-Orgue noch völlig. Im Hauptwerk gab es darüberhinaus noch keine Zungenstimmen zu 16' und 4'. Dafür verdoppelte Cavaillé-Coll gleiche Fußtonlagen und strebte ein stark von Flöten bestimmtes Ensemble an, indem er in den Manualen verschiedenste überblasende Flöten disponierte. Überblasend waren auch einzelne Zungenregister wie Trompette und Clairon des Schwellwerks (zwei- bis dreifach) und die Trompette des Hauptwerks (einfach). Ansonsten waren die Zungenstimmen, deren Nüsse Cavaillé-Coll noch auf spanische Art konzipierte, ebenso wie alle Grundregister auf Länge geschnitten. Erwähnung verdient Basson 16' des Pedals, dessen Pfeifenkörper Nüsse und Zungen aus Holz besaßen (ein Register, das vermutlich von Gavioli, dem Erbauer automatischer Instrumente, beeinflusst war).

Die Abnahme der neuen Orgel, deren Kosten sich auf 73.000 Franc beliefen, erfolgte durch eine Kommission, der neben Baron Séguier als Vorstand u.a. der Komponist Ambroise Thomas, der Architekt Jean-Jacques Huré, der "amateur de facture d'orgues" Hamel, der Klavierfabrikant Érard, der Orgelbauer Davrainville sowie die Organisten Prosper-Charles Simon (Saint-Denis), Louis Séjan (Saint-Sulpice), Lefébure-Wély (Saint-Roch) und der erste Titular der Madeleine, Alexandre-Charles Fessy, angehörten.

Der Abnahmebericht an den Kirchenvorstand lautete u.a.: »Obwohl die Orgel der Madeleine nur 48 Register hat, verfügt sie über eine außergewöhnliche Kraft und eine unendliche Vielfalt an Klangwirkungen; denn neben allen Klangmischungen, die man durch das Spiel einzelner Stimmen oder das Spiel verschiedener Registerkombinationen erhält, stehen dem Organisten noch 14 Pedaltritte zur Verfügung, die neue Möglichkeiten erschließen. Das ganze Werk ist großartig geplant. Die Konzeption ist gut ... Wir müssen an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die neuen "combinaison"-Tritte der Orgel der Madeleine, die Kraft ihrer Klänge und die zu große Akustik der Kirche ein ganz spezielles Studium (des Organisten) über die Klangwirkungen des Instruments erfordern; wenn man aber über alle Möglichkeiten dieser Orgel Bescheid weil, so können die leisesten, die verschiedensten und gewaltigsten Töne hervorgebracht werden. ... Die Kommission erkennt einstimmig, dass die Herren Cavaillé ihrer Aufgabe mit Genauigkeit und Pflichttreue nachgekommen sind, dass sie ihre Verpflichtungen im Interesse ihrer Kunst und zum Vorteil des ihnen anvertrauten Werkes sogar bei weitem überschritten haben . Sie glaubt folglich, dass die Abnahme der Orgel gerechtfertigt ist und sie beehrt sich, besonders Herrn Aristide Cavaillé-Coll, der das Projekt geplant und die Ausführung geleitet hat, das Lob auszusprechen, das diese schöne Arbeit verdient, die als Meisterwerk angesehen werden kann.«

Unter dem Titular Henri Dallier fand 1927 eine erste Wiederherstellung der Orgel durch Charles Mutin, den Nachfolger Aristide Cavaillé-Colls statt. Dabei wurde um 52.500 Francs neben notwendig gewordenen Reparaturen die Konzeption Cavaillé-Colls nur geringfügig verändert: Mutin ersetzte im Récit expressif die Register Bourdon 8' und Octavin 2' durch Gambe 8' und Voix céleste 8' und brachte den Umfang der Pedalklaviatur von ursprünglich C-c' auf C-f ' Außerdem wurde ein elektrisches Gebläse eingefügt, das die bis dahin notwendigen vier Kalkanten ersetzte.

In dieser Form bestand das Instrument bis 1956/57, als unter Édouard Mignan die Orgel erneut instand gesetzt und erweitert wurde. Die ausführende Firma war Roethinger aus Strasbourg unter der Leitung von Robert Boisseau, die Gesamtkosten beliefen sich auf 1.800.000 Francs. Der Spieltisch Cavaillé-Colls mit der mechanischen Traktur wurde beibehalten, die Zahl der Nebenzüge aber um folgende Koppeln vergrößert : Bombarde/Pédale, Récit/Pédale, Récit/Positif, Récit/Bombarde, Suboctavkoppel Récit/Positif . Außerdem baute man, um die Orgelmusik des 18. Jahrhunderts besser interpretieren zu können, sechs neue Register ein.

Jeanne Demessieux war Organistin der Madeleine von 1962 bis zu ihrem frühen Tod 1968. Unter ihrer Nachfolgerin Odile Pierre fand ein weiterer Umbau der Orgel von Sainte-Marie-Madeleine statt: 1971 behielt die Firma Danion & Gonzalez zwar den Großteil des Cavaillé-Coll'schen Materials von 1846 bei, ersetzte aber die originale mechanische Traktur durch ein elektrisches System, was zu einem vollständigen Umbau des alten Spieltisches führte. Außerdem baute die Firma neue Register ein, um verstärkt neben Werken der Romantik auch das Repertoire der Klassik und der Gegenwart spielen zu können. Die Neuintonation der nunmehr 58-registrigen Orgel besorgte Jean-Marc Cichero.

Seit 1979 wirkt François-Henry Houbart als Titularorganist der Kirche. Unter seiner Initiative fanden 1988, 1996 und 2003 Arbeiten an der Orgel statt, die dabei auch mit vier Chamaden ausgestattet wurde und heute 62 Register auf vier Manualen und Pedal besitzt.

© Günter Lade

Disposition