Jean Langlais wurde am 15. Februar
1907 als ältestes von vier Kindern einer armen Steinmetzfamilie
in La Fontenelle in der Bretagne geboren. Er verlor zweijährig
das Augenlicht (Glaukom) und kam 1917 an die Institution Nationale
des Jeunes Aveugles in Paris, einer am Ende des 18. Jahrhunderts
gegründeten Schule für die Ausbildung erblindeter Jugendlicher,
die in ihrem strengen Lehrplan auch einen qualifizierten Musikunterricht
anbot. Neben den allgemeinen Pflichtfächern lernte Jean Langlais
hier das Geigenspiel (in dem er es zu beträchtlichen Erfolgen brachte),
Solfège und Klavier bei Maurice Blazy (dem Organisten von Saint-Pierre-de-Montrouge)
sowie Harmonielehre bei Albert Mahaut, einem blinden Franck-Schüler,
der täglich theoretische Übungen aufgab und diese an einem
Harmonium zur Kontrolle vorspielen ließ.
Mit sechzehn Jahren fasste Jean Langlais
den endgültigen Entschluss, die Musik zu seinem Lebensinhalt zu
machen. Er widmete sich nun vorwiegend dem Orgelspiel bei André
Marchal, einem der begehrtesten Lehrer der Institution, der auf die
außergewöhnliche musikalische Begabung seines Schülers
einen wesentlichen Einfluss hatte.
1927 begann Jean Langlais seine organistische
Laufbahn als ständiger Stellvertreter des Organisten der Pariser
Pfarrkirche Saint-Antoine-des-Quinze-Vingts, in diesem Jahr trat er
auch in die Orgelklasse von Marcel Dupré am Conservatoire
National Supérieur de Musique ein, in der er 1930 den Premier
Prix d'orgue et d'improvisation errang. Unterricht bei Noël
Gallon in Kontrapunkt und Fuge vervollständigten die Ausbildung
des jungen Musikers, der 1929 seine ersten Kompositionen schuf und nach
der Verleihung des Orgeldiploms zum Professor für Orgel und Komposition
an die Institution Nationale des Jeunes Aveugles berufen wurde.
1932 folgte die Ernennung zum Titularorganisten der Cavaillé-Coll-Orgel
von Notre-Dame-de-la-Croix, 1934 schließlich in der Nachfolge
seines Lehrers Maurice Blazy die Nominierung an Saint-Pierre-de-Montrouge.
Im Jahre 1934 bewarb sich Jean Langlais
am Conservatoire als Hörer der Kompositionsklasse von Paul Dukas,
dem er sein Orgelstück Mors et Resurrectio (1933/34) präsentierte.
Paul Dukas war von diesem Werk und der Kompositionsbegabung Jean Langlais'
so beeindruckt, dass er ihn nicht nur als Hörer, sondern als Schüler
in seine Klasse aufnahm. Die fruchtbare Zusammenarbeit wurde 1935 kurz
vor dem Tod des verehrten Lehrers mit dem Premier Prix de composition
gekrönt.
Eine enge Freundschaft verband Jean
Langlais mit Louis Vierne, dem Titularorganisten der Kathedrale Notre-Dame-de-Paris,
sowie mit Charles Tournemire, einem Schüler von Charles-Marie Widor
und César Franck, der 1898 in der Nachfolge von César
Franck und Gabriel Pierné das Organistenamt der Basilika Sainte-Clotilde
in Paris übernommen hatte und hier Langlais privaten Improvisationsunterricht
gab. Von großer Bedeutung war für Langlais zeitlebens aber
auch die Freundschaft mit seinen Studienkollegen Gaston Litaize und
Olivier Messiaen, dessen La Nativité du Seigneur er 1935 zusammen
mit Daniel Lesur und Jean-Jacques Grunenwald in der Pariser Pfarrkirche
La Trinité uraufführte.
Auf ausdrücklichen Wunsch Charles
Tournemires wurde Jean Langlais 1945 Titularorganist der Basilika Sainte-Clotilde,
deren für die Musik- und Orgelgeschichte überaus bedeutsame
Tradition herausragender Organisten und Komponisten in ihm eine würdige
Fortsetzung fand.
Neben seinen kirchlichen Verpflichtungen
gab Jean Langlais Zeit seines Lebens im In- und Ausland zahlreiche Konzerte
und Meisterkurse, zwölf Reisen mit insgesamt etwa 300 Auftritten
führten in allein in die USA, wo er Ehrendoktorate der Universitäten
von Texas, Washington und Pittsburgh entgegen nahm. In Frankreich wurden
seine Verdienste u.a. 1952 und 1968 mit dem Chevalier bzw.
Officier de la Légion d'honneur gewürdigt, 1961
erfolgte die Berufung zum Professor für Orgel an die Schola Cantorum,
einem von Charles Bordes, Alexandre Guilmant und Vincent d'Indy 1896
gegründeten privaten Musikinstitut, an dem auch Louis Vierne, Olivier
Messiaen und viele weitere Persönlichkeiten der musikalischen Welt
gelehrt hatten.
In der Folge eines Schlaganfalls
büßte Jean Langlais 1984 weitgehend die Beherrschung der
Sprache ein und litt einige Zeit unter einer grausamen Mauer erschwerter
Kommunikationsfähigkeit, die das Einschränken seiner jahrzehntelangen
Unterrichts- und Konzerttätigkeit sowie 1988 die Zurücklegung
seines hohen Amtes an Sainte-Clotilde nach sich zog. Seine Improvisationen
und Kompositionen der letzten Lebensjahre spiegelten diese persönliche
Tragik wider, das unvergleichliche innere Licht seiner Meisterschaft
leuchtete bis zu seinem Tod am 8. Mai 1991 nurmehr wie von Ferne.
Jean Langlais hinterließ ein
umfangreiches kompositorisches Schaffen mit zweihundertvierundfünfzig
Werken für Orgel, Gesang, Kammerensemble und Orchester, von denen
viele zum festen Bestandteil der Konzertliteratur wurden.
© Günter
Lade (gekürzte Fassung des Booklet-Textes)