Peter Planyavsky Schritte zum Klangkonzept der Rieger-Orgel (1991) im Wiener Stephansdom
Für das Projekt der Rieger-Orgel im Friedrichsschiff war es vernünftig, einen Bezirk der primären liturgischen Aktivität zu definieren. Dieser umfasst für den weitaus größten Teil der Gottesdienste den Albertinischen Chor (die vordere Hälfte des Domes) sowie einen variabel großen Teil der anderen Hälfte. Die klangliche Durchdringung dieses Bezirkes ist vom Friedrichsschiff aus gut möglich. Dies zeigten die Erfahrungen aus der Chorarbeit sowie die Abwicklung der gesamten Dommusik in dieser Position seit 1985. Klangmessungen haben diese Erkenntnis bestätigt.
Nach vielen Überlegungen stand das projektierte Instrument in seinen Grundzügen bald fest: Es musste drei Manuale (Hauptwerk, Positiv/Brustwerk, Schwellwerk) aufweisen, im Pedal mit 32', im Hauptwerk mit Prinzipal 16'. Dieser Orgeltyp ist ziemlich häufig anzutreffen und entbehrt nicht einer gewissen gesunden Normalität, die gerne als Universal-Orgel bezeichnet wird: Viele Register, womöglich aus mehreren Stilen, in einer Orgel zusammengefasst, müssen untereinander eher angepasst sein. Die Eigenart des einzelnen Registers tritt zurück vor seiner Fähigkeit, mit anderen ein Ensemble zu bilden. Diesem Dilemma kann man jedoch durch Feinarbeit an der Disposition entkommen: Eine gute, interessante Trompete 8' mit Eigenleben und Charakter klingt bei Couperin, Bach und Heiller besser als eine vorsichtige, von vornherein auf Kompromiss angelegte. Und schließlich gibt es, so unglaublich das zunächst klingen mag, eine Art Benützungswertigkeit von Stilmerkmalen, einzelnen Registern und Dispositionselementen: Das französische Schwellwerk etwa erweist sich als ein im guten Sinne universales Instrument zur Bewältigung vieler Aufgaben. Sicher ist es vor allem für die französische Romantik unverzichtbar; mit seiner Hilfe lässt sich aber auch die deutsche Romantik darstellen, aber auch der englische Kathedralstil. Das hat damit zu tun, dass der berühmte Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll, für dessen Orgeln César Franck seine Orgelwerke ausgelegt hat, weit über Frankreich und weit über seine Zeit hinaus den Orgelbau beeinflusst hat, und dass seither nahezu jede nennenswerte Orgel, die sich als universal versteht, die wesentlichsten Merkmale seines genialen Schwellwerk-Konzepts aufweist. Und so ist es — hier mehr, dort weniger — mit vielen Ideen, die ursprünglich einer ganz bestimmten Stilrichtung zugehört haben, im Lauf der Zeit aber allmählich zu einer Art Kanon des universellen Orgelbaues geworden sind.
Mit derartigen Überlegungen tastet man sich immer mehr an eine endgültige Disposition des Instruments heran. Immer mehr geht es um Für und Wider, betreffend dieses oder jenes Registers. Früher, als einem lieb ist, gerät man nämlich in jedem Werk an die Grenzen der Registeranzahl, die einem vom verfügbaren Platz diktiert werden. Um es anhand des Schwellwerkes zu verdeutlichen: Noch nicht beim Urtyp von Cavaillé-Coll, aber später gehörte zu einem großen Schwellwerk immer eine 16'-Zunge. Wünschenswert ist im Hinblick auf die deutsche Romantik auch eine labiale 16'-Stimme. Durch die Platzsituation ist es aber ausgeschlossen, beide Stimmen zu disponieren. Somit stellt sich hier die Frage, ob der 16' als Zunge oder als labiale Stimme gebaut werden soll. Die Entscheidung fiel zugunsten des Bourdon, weil die für die deutsche Romantik nötigen Klangeffekte nicht mit einer Zungenstimme simuliert werden können, andererseits aber die Zungenstimme, selbst für die französische Literatur der Spätromantik, nicht so unersetzbar erscheint. Ein Teil dieses Mangels wird aufgewogen werden können, indem man das Regal 16' im Positiv mitverwendet. Dieser Gedankengang wiederum wäre nicht möglich, hätte man nicht den Entschluss gefasst, auch dieses Manual schwellbar zu machen.
Weitaus weniger sind Kompromisse bei den anderen Zungenstimmen des Schwellwerkes möglich. Die Musik von César Franck steht und fällt mit dem Vorhandensein sowohl der Oboe 8' als auch der Trompete 8', und Clairon 4' stellte im Schwellwerk Cavaillé-Colls, das ja keine Mixtur aufwies, gewissermaßen die Klangkrone dar. Für die Gravität und Breite dieses Werkes ist es wichtig, dass es auch einen Prinzipal 8' aufweist, wobei es ganz entscheidend ist, dass dieser zur Gänze innerhalb des Schwellkastens steht. Immer wieder geht es ja darum, dass der Zungenklang von den Labialstimmen eingehüllt und dadurch weich gemacht werden kann. Eine weitere Entscheidung betraf die Viola 4', die nun statt eines ursprünglich disponierten zweiten 2'-Registers im Schwellwerk steht. Hier schien eher der Prinzipal 2' entbehrlich als die Flachflöte 2', da sie für das Cornet décomposé nötig ist, während in den anderen Manualen ohnehin je ein prinzipalischer 2' vorhanden ist.
Auch im Positiv waren eine Anzahl von Einzelentscheidungen zu treffen: Zunächst war zu klären, dass die Anlage eines Rückpositivs nicht in Frage kommt — vornehmlich aus Platz- und Architekturgründen, aber auch im Bestreben, eher einer großen Gesamtklangkörper mit dementsprechend größeren Möglichkeiten der Mischung zu konzipieren und weniger ein polares Gegenüber von Teilwerken, wie dies etwa die Orgelbewegung immer wieder gefordert hat: Polares Gegenüber von Hauptwerk und Positiv kann man eher auch mit einem im Hauptgehäuse situierten Positiv stimulieren, umgekehrt aber weniger eine Gesamtverschmelzung mit einem räumlich getrennten Rückpositiv. Die erweiterten Möglichkeiten einer Gesamtdynamisierung legen die integrierte Anordnung des Positivs nahe. Dies ist auch schon der eine Aspekt, der dazu geführt hat, dass das Positiv ebenfalls schwellbar gemacht wird; die anderen Aspekte sind das Continuo-Spiel, die Begleitung des Kantors und ganz generell der Bedarf nach in der Lautstärke genau angepassten Begleitmöglichkeiten gerade im Piano- bis Pianissimobereich. Umgekehrt soll auch dieses Manual der Forderung nach Gravität angemessen entsprechen können. Daher findet sich auch hier ein Prinzipal 8', freilich aus Platzgründen erst ab c° ausgebaut. Ansonsten weist das Positiv die für dieses Werk typischen Stimmen auf: Im Sinne der Gravität bekommt es auch eine kurzbecherige Zunge 16', die nicht sosehr als zweite Komponente eines Zungenensembles mit dem Cromorne 8' gedacht ist. Letztere soll eher die charakteristische, frech-aggressive und durchaus laute kleinere Trompete der französischen Landschaft sein, während das Regal 16' eine zurückhaltende Solostimme ist.
Die Überlegungen bezüglich Hauptwerk sind in Zusammenhang mit dem Solo-Werk zu sehen. Schon im frühesten Stadium der Planung entstand der Wunsch, ein eigenes Manual mit Trompete 8', Clairon 4' und Cornet anzulegen, und zwar weniger im Sinne des hochromantischen Hochdruckwerkes, auch nicht ganz genau im Sinne des französischen Bombardwerkes, sondern hauptsächlich auf eine Verwendung als Cantus-firmus-Werk zielend. In der lutherischen und in der reformierten Praxis der Gemeindebegleitung (vor allem in den Niederlanden) ist die Tradition der Gemeindebegleitung mit hervorgehobener Melodie noch lebendig oder sogar wiederbelebt worden, und es schien, als könnte diese Praxis auch in unseren Breiten stärker angewendet werden: gerade in einem Kirchenraum, der zu nicht wenigen Anlässen von einer sehr großen singenden Gemeinde benützt wird. Vom Registerfundus her gehört dieses Solowerk also zum Hauptwerk, ist sozusagen eine Außenstelle davon, die aber aufgrund der getrennten Anlage mit eigener Lade und Traktur auch dem Plenum des Hauptwerkes gegenübergestellt oder übergeordnet werden kann. Das bringt als auffallendstes Ergebnis den Luxus von zwei Trompeten der 8'-Lage mit sich. Allerdings handelt es sich nur dem Namen nach um eine Verdoppelung, denn die eigentliche Hauptwerkstrompete ist, obzwar in französischer Bauweise ausgeführt, eher zahm gehalten und soll vor allem ins Plenum integrierbar sein, während die Solo-Trompete ausgesprochen frechen Charakter ausweist.
Eine weitere sehr wichtige Entscheidung betraf die Gestaltung der Mixturen. Die Orgelbewegung hat, zunächst folgerichtig, in größeren Orgeln immer zwei Mixturen im Hauptwerk gefordert (eine normale und eine hohe), und dieses Konzept wurde sehr oft auch in ganz großen Instrumenten beibehalten, allerdings zum Nachteil des eigentlich auf dem 16' verankerten Prinzipalchores. In Orgeln dieser Machart wurde die achtfüßige Hauptwerksmixtur ganz einfach überfordert: sie sollte sowohl dem 16' wie auch dem 8'-Plenum als Klangkrone dienen und auch die wichtigste Mixtur der gesamten Orgel sein. Aufgrund vielerorts gemachter ungünstiger Erfahrungen mit dieser nicht ganz konsequenten Lösung hat man sich für die neue Orgel in St. Stephan zu einer Mixtur major mit eindeutigem 16'-Bezug (also mit früh einsetzendem 5 1/3'-Chor) entschlossen, während die Mixtur minor eine weitgehend normale 8'-Mixtur ist — also kein Scharff oder eine Zimbel. Da das Instrument in den Manualen insgesamt vier 16füßige Register aufweist, scheint diese Lösung die weitaus logischere zu sein. Die Gambe 8' stellt, vor allem in Kombination mit der Flöte 8', eine wichtige dynamische Vorstufe zum Prinzipal 8' dar.
Im Pedal finden sich die gängigen Stimmen dieses Werkes; hier konnte auf die oft angetroffene Auffächerung in hohe und tiefe Mixtur verzichtet werden, da man genügend nicht extrem hoch liegende Mixturen in den Manualwerken zum Koppeln zur Verfügung hat. Der Quintbaß 5 1/3', eine im österreichischen Orgelbau seit langem heimische Spezialität, macht tiefliegende Registrierungen im 16' und 8'-Bereich präzise und ermöglicht sanfte Crescendi im Bass.
Und so stellt sich nun die klangliche Gesamtidee der 1991 vollendeten Rieger-Orgel dar: Nicht um jeden Preis eine außergewöhnliche, keineswegs eine alles könnende, auch nicht eine auf ganz bestimmte Stilrichtungen eingeengte Orgel, sondern ein Instrument, das in möglichster Ökonomie dennoch für viele Stile offen ist und in weiser beschränkter Vielseitigkeit viele Realisierungsmöglichkeiten bietet.
gekürzter Beitrag aus Österreichisches Orgelforum 1991/1-3, Abdruck mit freundlicher Genehmigung