Adolphe Marty, am
29. September 1865 in Albi als Sohn eines Wissenschaftlers blind geboren,
besuchte ab 1875 das Pariser Blindeninternat Institution Nationale
des Jeunes Aveugles, wo er ein hochbegabter Schüler war. César
Franck, jährlich Vorsitzender der Abschlußprüfungen
dieser Schule, erkannte Martys Virtuosität sowie sein Talent als
Komponist und Improvisator und nahm ihn 1885 in seine Klasse am Pariser
Konservatorium auf. Er sorgte außerdem dafür, daß Marty
Mitglied der Fugen- und Kompositionsklasse von Ernest Guiraud wurde.
Zum ersten Mal konnte sich nun ein Blinder mit Sehenden messen, Marty
begann dabei einen Siegeszug, der von etlichen seiner Schüler und
jungen Kollegen wie beispielsweise Mahaut, Vierne, Trépard, Barié,
Clavers, Noël, Marchal, Langlais, Reboulot oder Litaize (Preisträger
des Grand Prix de Rome) fortgeführt werden sollte.
1886 - nach einem
Jahr in der Orgelklasse César Francks - bekam Marty die höchste
Auszeichnung: einen Premier Prix, einstimmig sowie ohne ex
æquo. Nachdem er kurze Zeit Organist von Saint Paul in Orléans
gewesen war und hier seine wunderbaren Interludes pour les Vêpres
de Noël sowie Stücke geschrieben hatte, die wie beispielsweise
Angélus du soir, Pastorale, Marche funèbre,
Carillon des cloches de Saint-Paul oder Fantaisie en ré
majeur Berühmtheit erlangten, bewarb sich Marty für die
Orgelklasse des Blindeninternats, die durch den Tod von Louis Lebel
frei geworden war. Die Ernennung erfolgte 1888. Als Lehrer für
Orgel sowie später als Chorleiter und Dirigent sollte er an dieser
Schule für blinde Musiker zweiundvierzig Jahre lang einen maßgeblichen
Einfluß ausüben. Wir irren uns sicher nicht, wenn wir die
Zahl der Organisten auf etwa tausend schätzen, die von seinem Unterricht
und seiner hohen Vorstellung über das Amt eines Kirchenmusikers,
den er als Partner des Zelebranten sah, profitierten. 1891 errang Marty
in einem herausragenden Wettbewerb das Organistenamt der Pariser Pfarrkirche
Saint-François-Xavier, das er mit beispielhafter Treue und fortwährender
Brillanz fast ein halbes Jahrhundert innehatte.
Von Martys pädagogischen
Werken wollen wir das Lehrbuch L’Art de la pédale,
das allgemeine Anerkennung fand, und von seinen Orgelkompositionen die
zwei Sonaten de la Pentecôte und de Sainte-Cécile
sowie mehrere Bände mit liturgischen Stücken erwähnen.
Zu seinen Vokalwerken zählen mehrere Motetten wie Dix pièces
sur les mystères du Rosaire, doch hinterließ Adolphe
Marty, der sich in allen Genres versuchte, auch zahlreiche Lieder, kammermusikalische
Werke, ein lyrisches Drama (Marthe la Folle) sowie ein Oratorium
(l’Immolation du Christ). Kurz vor seiner Pensionierung
wurde Marty zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Bis in das Jahr seines
Todes unterrichtete er noch privat und wirkte an Saint-François-Xavier.
Sein fünfzigstes Dienstjubiläum an dieser Kirche wurde 1941
zu einer bewegenden künstlerischen und religiösen Manifestation.
Gesundheitlich schwer
in Mitleidenschaft gezogen, hielt sich Marty im Sommer und Herbst 1942
zur Erholung in seiner Heimat Tarn auf, wo er am 28. Oktober in Valence-d’Albigeois
ohne Leiden verstarb, nachdem er seine letzten Pflichten als gläubiger
Künstler erfüllt hatte. Wie dies ein Augenzeuge beschrieb,
glich sein Tod dem Ende einer Messe, wenn die Kirche sich leert und
die Orgel mit einem langen Akkord pianissimo verklingt. So war die edle
und fruchtbare Karriere von Marty. Sein Wirken ist vollendet, bleibt
aber bestehen. »Es wird weiterleben«, schrieb sein
Freund, der verstorbene Albert Mahaut, »wie dies unsere Pléiade
brillanter junger Organisten bezeugt, die selbst und durch ihre Schüler
das Ansehen der Blinden steigern werden«. Wir fügen
hinzu, daß das eifrige und erfolgreiche Ringen, von dem Marty
Beispiel gab, dazu beitragen wird, den Ruhm unserer französischen
Orgelschule zu erhalten und zu mehren, wie dies die Gegenwart bereits
in beredter Weise bezeugt.
Henri de Miramon Fitz-James (L’Orgue, Nr. 44, 1947, S. 95f.)