Bereits vor der
Aufnahme in das Pariser Konservatorium war mein Bruder 1897 Organist
der Dominikaner im Stadtteil Saint-Honoré geworden, wo er mit
der Praxis des Kirchendienstes vertraut wurde. 1902 ernannte man ihn
zum Organisten der Chororgel von Notre-Dame-des-Champs, wo er schließlich
1904 Camille Andrès als Organist der Hauptorgel nachfolgte. In
zehnjähriger Tätigkeit brachte er hier zur stillen Elf-Uhr-Messe
das gesamte alte und neue Repertoire der großen Orgelliteratur
zu Gehör. Er brach dabei bewußt mit der Tradition seiner
Vorgänger, die zu dieser Messe nur improvisiert hatten. Von Zeit
zu Zeit entsprach ich seinem Drängen und nahm mir nach der Messe
in Notre-Dame ein Taxi, um - wie mein Bruder sagte - »in der
kleinen Schwester auf den Feldern« [Notre-Dame-des-Champs]
zu spielen. 1912 gestalteten wir hier zusammen die Hochzeit der Nichte
von César Franck: Abbé Arnal pflegte lange zu zelebrieren,
so daß wir mit Werken des berühmten Großvaters ein
wahres Konzert geben konnten!
Er war ein sensibler
Künstler, der von einem höheren Ideal getragen wurde. In seinen
reizvollen Improvisationen bewies er Poesie und einen reinen mystischen
Glauben. Er schrieb charmante Orgelkompositionen, eine Messe sowie Motetten,
deren Stil als schlicht und ausdrucksvoll bezeichnet werden muß.
Seit 1902 [mit Henriette
Teyssèdre] verheiratet, kam mein Bruder vielen Aufgaben unter
anderem auch als Lehrer nach. Mit einem Chor, den er und einige Kameraden
gegründet hatten, brachte er in den Außenbezirken von Paris
und der Provinz schöne Messen zu Gehör und stand, als der
Krieg ausbrach, in voller Aktivität.
Im Alter von sechsunddreißig
Jahren wurde er bereits am 8. August 1914 einberufen, ein Jahr später
sollte ich ihn zum letzten Mal sehen ..., doch erhielt ich in der Schweiz,
wo ich ab Juli 1916 meine Augen behandeln ließ, wöchentlich
Nachrichten von ihm .... 1917 fiel mein siebzehnjähriger Sohn,
worauf René mir schrieb: »Ich mache nun Krieg, nicht
nur für Frankreich, sondern auch, um den armen Buben zu rächen«.
... Am 29. Mai [1918] wurde er vermißt gemeldet, sechs Wochen
später erhielt ich die Mitteilung, daß er von einer österreichischen
Granate getötet worden und buchstäblich als Rauch zum Himmel
aufgestiegen war. Seine letzte Ruhestätte habe ich in mir selbst
eingegraben, wo ich ihn seit nunmehr siebzehn Jahren beweine ... .