So heikel die Kombination
der unendlich nuancierbaren Violine mit den planen Klängen der
Orgel auch erscheinen mag, so deutlich hebt sie doch gerade wegen des
ihr innewohnenden Kontrastes die gesanglichen Qualitäten des Streichinstrumentes
hervor. So wird die Violine unversehens zum orphischen Instrument, eine
Quelle für einen nicht versiegenden Gesang ohne Worte.
Grenzenlos, des Atems nicht bedürftig, heben und
senken sich die melodischen Linien in den beiden betörenden Werken
von Sigfrid Karg-Elert (1877-1933). Obwohl stets schlüssig und
klar, bleiben die Formen dieser Stücke frei und wie in einem steten
Fluß begriffen. Die Harmonik verfügt in jedem Moment gleichzeitig
über diatonische Keuschheit, chromatische Verdichtungen (Max Reger
zählte zu den Förderern des Komponisten) und (etwa in erstaunlichen
Akkordschichtungen) impressionistisches Kolorit. Bemerkenswert ist die
Unmittelbarkeit und Wandlungsfähigkeit des Ausdrucks dieser Musik.
Sanctus und Pastorale wirken wie zwei - allerdings grundverschiedene
- Szenerien, in denen Utopie und Realität aufeinandertreffen.
Für die am 8. Juni 1867 in Buda(pest) erfolgte
Krönung Kaiser Franz Joseph I. zum Apostolischen König von
Ungarn komponierte Franz Liszt (1811-1886) seine Ungarische Krönungsmesse.
Wahrscheinlich vier Jahre später schuf er die Bearbeitungen des
Offertoriums sowie des Benedictus für Violine und Orgel. Aus dem
äußerst sparsam gehaltenen Tonsatz, in dem kleinste Rückungen
und Veränderungen zu Ereignissen werden, entsteht eine Atmosphäre
höchster Dichte und Innigkeit. Bisweilen läßt die Melodik
magyarische Einflüsse anklingen, während die dramatischen
Aufschwünge auf die orchestrale Originalfassung verweisen. Das
Singuläre dieser Musik aber liegt in ihrer Reduktion, in der Schleierlosigkeit
ihrer Gestalt.
Der Topos der singenden Violine begegnet uns auf der
vorliegenden CD auch in sehr aparten Werken aus der großen französischen
Orgeltradition des 20. Jahrhunderts: Jean Langlais (1907-1991), der
zu den wichtigsten wie fruchtbarsten Orgelkomponisten seines Landes
zählte und als Titulaire der berühmten Cavaillé-Coll-Orgel
der Pariser Basilika Sainte-Clotilde Nachfolger von César Franck
und Charles
Tournemire war, verfaßte mit seinen Cinq Pièces
(1974) eine reizvolle Bearbeitung seiner zwanzig Jahre zuvor komponierten
Cinq Mélodies für Stimme und Klavier auf Texte der Renaissancedichter
Pierre de Ronsard und Jean Antoine de Baïf. Die Strophenstruktur
der Originalfassung wird in der Transkription beibehalten, wobei der
Solopart bei jeder neuen Strophe Umspielungen der melodischen Kontur
aufweist. Bemerkenswert an diesen Stücken ist der Umstand, daß
ihre fast durchgehende Schlichtheit niemals das Langlais eigene stilistische
Raffinement vermissen läßt. Hier scheinen Kunstmusik und
Volkston (auch, wenn es sich in Wahrheit um einen gewissermaßen
artifiziellen handelt) gänzlich miteinander zu verschmelzen.
Joseph Reveyron (1917-2005), zu unrecht weit weniger
bekannt, war Organist der Primatiale Saint-Jean zu Lyon. Er hinterließ
ein vielfältiges Œuvre mit einem eindrucksvollen Schwerpunkt
auf Orgelmusik, vokalen Werken und zahlreichen Kompositionen für
Soloinstrumente und Orgel, zu denen auch die in dieser Aufnahme eingespielten
Originalwerke zählen. Das 1955 entstandene Verset ist als klingende
Entsprechung zu einem Capitulum, also einer Kurzlesung aus einem Bibeltext,
zu verstehen, die in eine ausgedehnte Meditation mündet. Reveyrons
charakteristische, frei modale Tonsprache äußert sich in
der Umsetzung des Vierten Psalmes noch deutlicher, geradezu dramatisch.
Wie in einer kleinen symphonischen Dichtung stehen einander in diesem
eindrucksvollen Stück zwei stark kontrastierende Elemente gegenüber,
die erst am Ende in heiterer Gelöstheit zusammenfinden: die Violine
mit ihren Fragen, ihrem Flehen, und die Orgel als Manifestation der
göttlichen Erhabenheit.
Drei kurze Orgelinterludien dienen als Interpunktion
innerhalb der Werkabfolge: der poetische Chant des Bergers, eine der
frühesten Kompositionen von Jean Langlais (1929), das über
eine von einer Enkelin des Komponisten zufällig gefundene Tonfolge
und in Art eines subtil colorierten Choralvorspieles ausgeführte
Jubilatoire (1976) von Joseph Reveyron sowie das einzige Orgelstück
von Germaine Tailleferre (1892-1983), ein Nocturne (1977 transkribiert
nach einer Serenade für Holzbläser), das - vornehmlich auf
den weißen Tasten - seinen berückenden, impressionistisch-elegischen
Charme verströmt.
Bei den beiden marianischen Stücken österreichischer,
dem musikalischen Jugendstil verpflichteter Komponisten handelt es sich
schließlich um authentische Vokalwerke: Das Ave Maria des später
als Schöpfer akklamierter Opern zu Berühmtheit gelangten Franz
Schreker (1878-1934) entstand 1909 als Gabe für die Mäzenin
Prinzessin Alexandrine zu Windischgraetz.
1911 bearbeitete Joseph Marx (1882-1964) sein zwei Jahre
zuvor geschriebenes Marienlied auf einen Text von Novalis für Stimme
und Orgel. Hier findet sich die für ihn typische, weit ausschwingende
und von sinnlichen Harmonien getragene Melodik, die ihn in seinem vokalen
und symphonischen Schaffen in der Zwischenkriegszeit zu einem der herausragenden
Komponisten seiner Generation machte.
Komplexe musikalische Gefüge beziehen ihre Schlußwirkung
oftmals durch den Überraschungseffekt eines gegen Ende hinzutretenden,
gänzlich neuen Themas (man denke etwa an das Schlußduett
aus Richard Straussens Rosenkavalier). In diesem Sinne ist - nach den
vielen zarten Nuancen, die aus den zumeist knappen Formen dieses Programmes
hervorleuchten - die Funktion der gewaltigen Chaconne in g-Moll von
Tommaso Antonio Vitali (1663-1745) zu verstehen. Erstmals im 19. Jahrhundert
von Ferdinand David in seiner Hohen Schule des Violinspiels publiziert,
stellt sie ein überaus dankbares Werk dar, um verschiedenste Spieltechniken
und Ausdrucksmöglichkeiten des Soloinstrumentes zu wirkungsvoller
Geltung zu bringen. Die Autorenschaft Vitalis bleibt trotz mannigfacher
Recherchen jedoch im Dunkeln. Bemerkenswert ist die harmonische Entwicklung
des Stückes, die bis zu Enharmonik, Terzverwandtschaften, ja sogar
bis zur aufsteigenden, nun fünftaktigen (!) Gegenbewegung des klassischen,
in vier Stufen absteigenden Chaconnen-Basses reicht, was den Violinvirtuosen
zusätzlich Anlaß für Ausschmückungen im durchaus
romantischen Gestus bot, die bis heute mit der Aufführungstradition
des Werkes untrennbar verbunden scheinen. Handelt es sich also vielleicht
doch um ein stilistisches Vexier-Spiel aus dem 19. Jahrhundert? Der
Gesang der Sirenen tönt über die Jahrhunderte hinweg …
© Dr. Thomas Daniel
Schlee