Gaston
Litaize, am 11. August 1909 in Ménil-sur-Belvitte in den Vogesen
geboren, erblindete wenige Tage nach seiner Geburt an einer Infektion,
da ihm die betrunkene (!) Hebamme die Augen nicht gereinigt hatte. Der
Verlust des Augenlichts war ein schwerer Schicksalsschlag, den Litaize
später jedoch durchaus positiv sah: »Glücklicher
Vorfall; ohne die unglückliche Geste einer Krankenschwester hätte
ich wahrscheinlich mein Dorf nie verlassen, wie meine Kameraden in einer
Spinnerei der Vogesen gearbeitet und nichts von der Herrlichkeit der
Musik gewußt!« So aber kam er auf Initiative des Bürgermeisters
von Ménil-sur-Belvitte 1917 an die Blindenschule in Nancy, wo
man seine Musikalität erkannte und förderte. Neben Unterricht
in Harmonielehre und Kontrapunkt erlernte er bei Charles Magin, einem
Schüler von Charles-Marie Widor und Louis Vierne, das Klavier-
und vor allem Orgelspiel, in dem er es schon sehr früh zu außergewöhnlichen
Leistungen brachte.1926 übersiedelte Litaize nach Paris, wo er
an der Institution National des Jeunes Aveugles seine musikalische Ausbildung
bei Adolphe Marty, einem Schüler von César Franck, fortsetzte
und schließlich ab 1927 am Pariser Konservatorium die Klassen
von Henri Busser (Komposition), Georges Caussade (Tonsatz), Maurice
Emmanuel (Musikgeschichte) sowie Marcel Dupré (Orgel und Improvisation)
absolvierte. Den Diplomen (Premiers Prix) in Orgel, Improvisation, Komposition,
Kontrapunkt und Fuge folgten verschiedene Interpretations-, Improvisations-
und Kompositionspreise nationaler Wettbewerbe, die seinen Namen weithin
bekannt machten.
Es ist bewundernswert, wie Gaston
Litaize, der mit seinen Studienkollegen Jean Langlais und Olivier Messiaen
ein Leben lang freundschaftlich verbunden war, bis ins hohe Alter seinen
vielfältigen Verpflichtungen nachkam: Neben einer regen Konzerttätigkeit
im In- und Ausland sowie Rundfunk- und Schallplatteneinspielungen war
er als Pädagoge, als Leiter der Abteilung Kirchenmusik des französischen
Rundfunks, als Organist, als Komponist sowie nicht zuletzt als Orgelsachverständiger
tätig, wobei er, wie dies auch in seinem Beitrag über die
Orgel der Kathedrale zu Angers anklingt, vor allem dem neoklassischen
Ideal verpflichtet war.
Die wichtigsten Etappen seiner
Karriere waren im Überblick: 1938 bis 1969 die Professur für
Klavier, Harmonielehre, Musikalische Pädagogik, Chorleitung bzw.
Orgel am Pariser Blindeninstitut, 1944 bis 1975 die Gestaltung von Gottesdienstübertragungen
sowie Sendungen mit Orgel- und Sakralmusik im Rundfunk, 1975 bis 1990
die Professur für Orgel und Improvisation am Conservatoire National
de Région in St. Maur-des-Fossés, wo Litaize bis in sein
einundachtzigstes Lebensjahr lehrte und durch seine künstlerische
Ausstrahlung jungen Organisten wie beispielsweise Olivier Latry entscheidende
Impulse geben konnte.Neben seinen pädagogischen Verpflichtungen
hatte Gaston Litaize stets auch Organistenstellen inne: nach dem Dienst
an Notre-Dame-de-la-Croix in Paris (1930-1931), Saint-Genest in Thiers
(1932), Saint-Léon in Nancy (1933) sowie Saint-Cloud (1934-1944)
wurde er 1946 zum Titularorganisten der Pariser Pfarrkirche Saint-François-Xavier
ernannt. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß er beim Wechsel an
eine andere Kirche stets dafür sorgte, daß ein blinder Kollege
mit seiner Nachfolge betraut wurde. Gaston Litaize setzte sich überhaupt
tatkräftig für die Belange der Blinden ein: er wurde 1947
Vorstandsmitglied der Association Valentin Hauy pour le bien des
aveugles, die sich u.a. mit einer großen Musikbibliothek
und einem Transkriptionsdienst für Noten um blinde Musiker kümmerte,
darüberhinaus gründete er 1948 aber auch einen eigenen Blindenverband,
dessen Vorsitzender er bis 1976 war. In diesem Zusammenhang muß
erwähnt werden, daß sich Litaize als Laienbruder von Solesmes
intensiv mit dem gregorianischen Choral auseinandersetzte und in Anlehnung
an Louis Braille für die Notation der Neumen in Blindenschrift
ein eigenes System entwickelte.
Als Komponist stand Gaston
Litaize nach eigener Aussage stilistisch in der Tradition César
Francks, den er einmal als seinen musikalischen Großvater bezeichnete.
Sein vielfältiges Schaffen umfaßt in einer spätromantisch
bis gemäßigt-modernen Tonsprache neben Orchester-, Klavier-
und Vokalmusik vor allem Orgelwerke, für die er oft auf gregorianische
Themen sowie auf die klassischen Formen und Techniken etwa des freien
Präludiums, der Fuge oder der Passacaglia zurückgriff und
diese wie beispielsweise in seinem Prélude et danse fugée
mit neuem Leben füllte.
An Epiphanias 1991 gab Gaston
Litaize in Vichy sein letztes öffentliches Konzert. Wie bereits
im August 1990 erlitt er Ende Juni 1991 einen Herzinfarkt, doch kam
er weiterhin dem Organistendienst an Saint-François-Xavier nach.
Er spielte hier die Chororgel, da seine große Orgel restauriert
wurde. Ihre Fertigstellung durfte Litaize nicht mehr erleben: Er starb
kurz vor seinem zweiundachtzigsten Geburtstag, am Abend des 5. August
1991, im Haus der Familie in Fays. Nach dem Tod seines Freundes Jean
Langlais am 8. Mai 1991 war dies ein weiterer schwerer Verlust für
die französische Orgelkunst der grands maîtres unseres
Jahrhunderts, von deren letzten Repräsentanten nur wenige Monate
später, am 27. April 1992, auch Olivier Messiaen in die Ewigkeit
abberufen wurde.
© Günter
Lade (gekürzte Fassung des Booklet-Textes)