Die Orgel der Kathedrale Notre-Dame in Paris

 

Bereits um 1200 kamen Musiker aus ganz Europa nach Paris, um hier an der bedeutendsten Pflegestätte der frühen Mehrstimmigkeit, der »Schule von Notre-Dame«, die organale Kunst zu lernen, die untrennbar mit den Namen der Meister Leonin und Perotin verbunden ist. Leonin war am Ende des 12. Jahrhunderts, als der Chor der Kathedrale schon für kirchliche Feiern in Gebrauch stand, wohl der erste Musiker an Notre-Dame. Er wurde als »optimus organista« bekannt, d.h. als Komponist zweistimmiger Organalsätze und nicht als Organist im heutigen Sinn, auch wenn sicherlich die Stimmen der Sänger auf einem Positiv begleitet wurden.

Die erste konkrete Nachricht über das Vorhandensein einer Orgel in der Kathedrale stammt aus dem Jahre 1357, als ein vermutlich in der Mitte des 13. Jahrhunderts erbautes Blockwerk als Schwalbennest im Hauptschiff hing.

Von 1400 bis 1403 entstand durch Frédérick Schambantz auf der Westempore eine neue Blockwerk-Orgel, die 330 Jahre nahezu unverändert erhalten bleiben sollte. Sie wurde ständig repariert und im Laufe der Zeit auch um verschiedene Zubauten erweitert: 1610 fügte Valéran de Heman ein Positiv als zweites Manual hinzu, 1618 bis 1620 erfolgte der Einbau einer dritten Manualklaviatur. Weitere Modernisierungen fanden 1646 durch Pierre Thierry, 1672 durch Jacques Carouge und 1691 durch Alexandre Thierry statt, so dass die Orgel zu Beginn des 18. Jahrhunderts neben dem gotischen Blockwerk 37 Register auf insgesamt vier Manualen und Pedal hatte.

Ein Wendepunkt in der Orgelgeschichte von Notre-Dame wurde 1731 erreicht, als die alte Orgel mit Ausnahme des Rückpositivgehäuses abgetragen und der bis heute erhaltene Orgelprospekt geschaffen wurde. In diesem Gehäuse vollendete François Thierry 1733 unter Wiederverwendung alten Pfeifenwerks eine klassisch-französische Orgel mit 45 Registern auf fünf Manualen und Pedal, die im Hauptwerk zwar über Dessus de Montre 32', ein vielchöriges Mixturensemble und zwei Trompeten 8' verfügte, deren Pedal jedoch nach alter französischer Tradition mit nur sieben Stimmen (ohne Pedalkoppeln) besetzt war.

1784 verpflichtete man den berühmten Orgelbauer François-Henri Clicquot mit einer Überholung der Orgel Thierrys, wobei u.a. das Rückpositivgehäuse durch ein neues ersetzt wurde, im Jahre 1812 behob Pierre-François Dallery die durch die Revolution an dem Instrument entstandenen Schäden. 1833 bis 1838 baute schließlich sein Sohn Louis-Paul Dallery die bis dahin in ihrem Bestand noch nahezu original erhaltene klassisch-französische Orgel um, indem er das Werk auf vier Manuale reduzierte, ein Schwellwerk einfügte und im Hauptwerk fast alle Aliquot- und Mixturregister entfernte.

Nachdem die Orgel durch die Restaurierung der Kathedrale im 19. Jahrhundert schwer beschädigt worden war, erhielt Aristide Cavaillé-Coll 1862 den Auftrag zum Bau eines neuen Instruments. Unter Wiederverwendung alten Pfeifenwerks konzipierte er im historischen Gehäuse ein großes romantisches 32'-Werk ohne Rückpositiv, das eines seiner Meisterwerke werden sollte. In der Disposition ging Cavaillé-Coll dabei neue Wege: Er baute nicht nur - wie vertraglich vorgesehen - Oktaven und Quinten, sondern aus akustischen Gründen auch eine große Zahl von Aliquotregistern ein, die damals im Orgelbau nicht gebräuchlich waren. Um diesen Plan verwirklichen zu können, opferte der Orgelbauer bedenkenlos und ohne Absprache mit seinen Auftraggebern Register der in der ursprünglich geplanten Disposition ohnehin reich besetzten 8'-Lage, um Platz für die neuen Stimmen zu erhalten: Er disponierte im Pedal die Obertöne der 32'- und im Bombardwerk die Obertöne der 16'-Lage, während er die Obertöne der 8'-Lage auf einem zusätzlichen fünften Manual zum Klingen brachte, das an das Hauptwerk und Positiv koppelbar war. Da dieses fünfte Manual außerdem die Klangkrone des Tutti bilden sollte, wurde es unter anderem auch mit einer Zungenbatterie ausgestattet.

Die neue Orgel, deren Intonation Gabriel Reinburg besorgte, wurde gegen Ende des Jahres 1867 mit fünf Manualen, Pedal und 86 Registern fertig gestellt und zum Weihnachtsfest erstmals gespielt. Cavaillé-Coll war auf sein Werk sehr stolz, und er bezeichnete das Instrument in einem Brief an den Kultusminister als das vollkommenste und vollendetste Europas! Albert Schweitzer sagte über die neue Orgel, die am 6. März 1868 eingeweiht und in einem Konzert unter anderem von César Franck, Camille Saint-Saëns, Félix-Alexandre Guilmant und Charles-Marie Widor gespielt wurde, »daß einst die Engel des Jüngsten Gerichts auf der Orgel von Notre-Dame das Gloria spielen würden«.

Zunächst wirkte jedoch Eugène Sergent (1829-1900) als Titularorganist der großen Orgel, mit deren musikalischen Möglichkeiten er nicht viel anzufangen wusste und deren Registerreichtum er zum Ärger Cavaillé-Colls nur wenig ausschöpfte: »Die Notre-Dame-Orgel ist von allen großen Orgeln, die ich gebaut habe, meine Lieblingsorgel. Und was geschieht? Ich höre sie nie! Sergent hat schon Angst vor 4'-Registern, er benutzt nicht einmal die Hälfte der Mixturen im Grand-Choeur; seine Vorliebe sind die 16'- und 8'-Register in der Mitte der Klaviatur. Außer der Hautbois, der Trompette und der Clarinette auf dem Récit spielt er keine anderen Solostimmen. Dieses ewige Brum­men ohne Abwechslung, ohne Pause, ohne Farbe ist unerträglich!«

Mit Louis Vierne (1870-1937) erhielt Notre-Dame im Jahre 1900 einen Titularorganisten, den das Instrument Cavaillé-Colls zu hervorragenden Improvisationen und vor allem Kompositionen inspirierte. Vierne schätzte das Instrument sehr (»Quelle noblesse! Quelle intensité! Quelle fraîcheur aussi dans les timbres de chaque jeu!«), doch ließ er in den Jahren 1902 bis 1904 durch Charles Mutin im Récit neue Stimmen einfügen, da ihm dessen Klangkraft im Vergleich zur Cavaillé-Coll-Orgel von Saint-Sulpice (1862, V/P/100) zu schwach erschien.

1937 übernahm Léonce de Saint-Martin (1886-1954) das Organistenamt der Kathedrale, nachdem er schon 1931 von Louis Vierne zum Stellvertreter gewählt worden war. Aus Furcht vor möglichen Veränderungen lehnte er trotz immer häufiger auftretender Defekte eine grundlegende Instandsetzung der Orgel ab und begnügte sich damit, das Werk durch Jean Perroux, einen ehemaligen Mitarbeiter Cavaillé-Colls, einigermaßen spielbar zu erhalten. Als 1955 schließlich Pierre Cochereau (1924-1984) zum Titularorganisten der Kathedrale ernannt wurde, befand sich die Orgel in einem derart schlechten Zustand, dass eine umfassende Instandsetzung notwendig war. Wie Léonce de Saint-Martin einst befürchtet hatte, kam es dabei ab 1959 auch zu einer stilistischen Umgestaltung des Instruments, die von Jean Hermann und nach dessen Tod bis 1972 von Robert Boisseau ausgeführt wurde. Die Orgelbauer führten einen Teil der Register in den Zustand des 18. Jahrhunderts zurück, um neben den romantischen Registern auch klassisch-französische Registrierungen zu ermöglichen. Sie schufen somit eine Universalorgel mit 107 Registern auf fünf Manualen, Pedal und elektrischer Traktur, die sich aus einem Großteil der Register Aristide Cavaillé-Colls, einem großen klassischen 32'-Plenum mit kleinem Récit, einem großen romantischen Schwellwerk, Zungenbatterien von François-Henri Clicquot sowie modischen Stimmen des 20. Jahrhunderts wie den horizontalen Zungenregistern zusammensetzt.

Unter Pierre Cochereaus Nachfolgern Yves Devernay (gest. 1991), Olivier Latry, Philippe Lefebvre und Jean-Pierre Leguay stellte sich bei der Amtsübernahme 1985 das Problem einer Instandsetzung der Orgel, deren Funktionstüchtigkeit durch technische Gebrechen vor allem des Spieltischs und der elektrischen Trakturen stark behindert wurde. Die Dringlichkeit einer Restaurierung war allen Verantwortlichen, dem Staat als Besitzer der Orgel, den Denkmalschützern der Monuments historiques und den vier Titularorganisten klar, über die Form der Ausführung gab es jedoch heftige Diskussionen.

Die wichtigsten Varianten waren: 1. Kompromisslose Wiederherstellung der Orgel Aristide Cavaillé-Colls mit Wiedereinbau des im Musée de Notre-Dame befindlichen originalen Spieltischs bei rekonstruierter mechanischer Spiel- und Registertraktur (Barkerhebel). Neubau einer Schwalbennestorgel à la Chartres im Langhaus. 2. Wiederherstellung der Cavaillé-Coll-Orgel mit ihrem originalen Spieltisch und rekonstruierter mechanischer Traktur, dazu ein zweiter elektrischer Generalspieltisch auf der Seitenempore für die Register Cavaillé-Colls, für die in der Ära Cochereau hinzugefügten Stimmen sowie für neue Register, die im neu installierten barocken Rückpositivgehäuse aufgestellt werden sollten. 3. Beibehaltung des gewachsenen Zustands ohne jede Modifikation.

In Zusammenarbeit mit den Titularorganisten erstellte schließlich der Beauftragte des Kultusministeriums, Jean-Pierre Decavèle, das endgültige Restaurierungsprogramm: »Die Orgel bleibt in ihrer gegen wärtigen Gestalt mit modernem Spieltisch und elektrischer Traktur ohne zusätzliche Klangebene in Form eines Rückpositivs bestehen. Das Instrument wird restauriert, wobei es sich eigentlich um eine umfangreiche Überholung handelt: vollständige Erneuerung der elektrischen Trakturen unter Berücksichtigung neuester Technologie, Verbesserung der Windversorgung mit Wiederherstellung der verschiedenen Winddrücke, im klanglichen Bereich Rückführung auf das Plenum Cavaillé-Colls durch Einfügen der Cavaillé-Coll'schen Mixturen (progressives harmoniques) an ihrem ursprünglichen Platz in Hauptwerk und Positiv, Intonation veränderter Register im Sinne Cavaillé-Colls sowie neue Zusammensetzung der so genannten klassischen Mixturen, die in den sechziger Jahren hinzugefügt wurden.«

Nach der Ausschreibung der Arbeiten im Frühjahr 1989 wurden die Firmen Jean-Loup Boisseau und sein Partner Bertrand Cattiaux sowie Philippe Emeriau und Michel Giroud mit den Restaurierungsarbeiten betraut, die nach dem letzten Spiel Philippe Lefèvres in Konzert und Abendmesse des 22. April 1990 mit der Demontage des Instruments begannen. Philippe Emeriau und seine Mitarbeiter besorgten die Restaurierung der Cavaillé-Coll'schen Windladen und der Windkanäle, er war auch für die Anfertigung neuer Verführungsrohre aus Holz bzw. Blei zuständig, da die originalen Rohre in den sechziger Jahren durch Karton- und Plastikleitungen ersetzt worden waren. Michel Giroud stellte eine Teil der Balganlage, die (Register-)Barkermaschinen, die Windladen des unter Cochereau eingefügten Kleinpedals und klassischen Récits sowie die Windversorgung der Chamaden wieder her.

Die Restaurierung, Neuordnung und Intonation des Pfeifenwerks führten Jean-Loup Boisseau und Bertrand Cattiaux aus, die u.a. Cavaillé-Coll'sche Expressionen wiederherstellten und folgende Än­ derungen der Disposition vornahmen: Erweiterung der Cymbale um einen Terzchor sowie Neubau eines Basse de Bombarde 16' im Hauptwerk; Wiederherstellung der ursprünglichen Mixtur mit Einfügung eines zusätzlichen Chores im Positiv; Entfernung der von 1970 stammenden Mixturen des Schwellwerks sowie Neubau einer Quinte 2 2/3' und einer Clarinette 8' in der Bauart Cavaillé-Colls; Neuzusammenstellung der 1970 hinzugefügten Mixtur des Grand-Choeur; Erweiterung des Kleinpedals um Clairon 2' sowie Neuzusammensetzung der Mixtur; Neue Verteilung der Chamaden sowie Vervollständigung um die neuen Register Trompette 8' und Clairon 4' als Kopie der Horizontaltrompeten der Cavaillé-Coll-Orgel von Saint-Sernin in Toulouse.

Im Jahre 1991 begann der Wiedereinbau des Instruments in das Gehäuse, das inzwischen von Paul Poilpré wiederhergestellt und neu gefasst worden war. Im März dieses Jahres wurde auch der neue Spieltisch vollendet, für den die Klaviaturen, Registerzüge, Schwell- und Kombinationstritte sowie die Orgelbank des Cochereau-Spieltischs wiederverwendet wurden. Die Firma Synaptel begann nun in ihrer Werkstatt mit dem lang vorbereiteten Einbau des Computersystems für die Spiel- und Registertraktur der Orgel, die somit nicht nur wegen ihrer Registerzahl, sondern auch in technischer Hinsicht zum führenden Instrument Frankreichs werden sollte. Über verschiedene Computerstationen in Spieltisch, Gehäuseunterbau (Zentralbüro) und Pfeifenwerk werden das Spiel und die Registrierung des Organisten digital zu den Elektromagneten der Windladen übertragen, sie können aber auch gespeichert oder in Partitur aufgezeichnet und ausgedruckt werden, so das u.a. eine selbständige Wiedergabe und auch Korrektur möglich sind.

© Günter Lade (gekürzte Fassung des Booklet-Textes)

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