»Wer
ist Jul. Reubke ?«
Diese Frage von
1871, dreizehn Jahre nach dem Tod Reubkes gedruckt, ist nur wenig jünger
als die ersten veröffentlichten Texte über einen sehr früh
verstorbenen Musiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den
alle Kenner seiner Werke hoch schätzten, der aber einem breiten
Publikum unbekannt blieb. Sie stand auf einer Ankündigung der geplanten
Gesamtausgabe seiner Werke bei Julius Schuberth in Leipzig; sie interessierte
spätestens seit diesem Zeitpunkt jeden, der sich mit seinen Werken,
vor allem dem »94. Psalm« für Orgel, auseinandersetzte;
sie führte den Autor der vorliegenden Publikation zu immer weitreicherenden
Forschungen. Der immer stärker verfolgten Auseinandersetzung mit
Reubke gingen als wichtige Stationen voraus: eine Aufführung der
Klaviersonate b-Moll und der Orgelsonate c-Moll »Der 94. Psalm«
im April 1986 in einem Konzert in der First Presbyterian Church in Santa
Barbara (Kalifornien/U.S.A.); eine Aufführung beider Sonaten im
Herbst 1987 in der Kirche St. Anna-Baumgarten in Wien; das erste Konzert
mit dem erhaltenen Gesamtschaffen (Trio Es-Dur für Orgel; Mazurka
E-Dur, Scherzo d-Moll und Sonate b-Moll für Klavier; Sonate c-Moll
für Orgel »Der 94. Psalm«) im März 1989 in den
Vereinigten Staaten in der St. Bartholomew’s Church in New York
City, dem Cleveland Museum of Art in Cleveland (Ohio) und der Broadstreet
Presbyterian Church in Columbus (Ohio); ein Seminar über die Klavierwerke
Reubkes mit anschließender Aufführung im Herbst 1989 an der
Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien; sowie zuletzt
ein Vortrag über Reubke und ein Konzert mit seinem Gesamtschaffen
im Januar 1992 beim 6. Internationalen Orgelfestival an der University
of Redlands (Kalifornien/U.S.A.).
Daniel Chorzempa
gebührt das Verdienst, über Reubke und sein Werk ausführlich
im Rahmen einer 1971 an der University of Minnesota vorgelegten Dissertation
geschrieben zu haben. Er trug zahlreiche biographische Daten in Bibliotheken
und vor Ort zusammen und konnte viele Fehler in der Überlieferung
berichtigen. Er besprach die fünf erhaltenen Werke, stellte sie
in den historischen Zusammenhang und analysierte nach verschiedenen
Gesichtspunkten die beiden großen Sonaten. Es erschien zunächst
nicht notwendig, einen erneuten Versuch in dieselbe Richtung zu unternehmen
und Julius Reubke und seinem Schaffen eine weitere Arbeit zu widmen.
Dagegen sprachen jedoch mehrere Gründe: Chorzempas Dissertation
wurde nicht veröffentlicht, der Zugang zu ihr ist schwierig. Sie
wurde in englischer Sprache abgefaßt, im deutschen Sprachraum
ist noch keine Übersetzung oder vergleichbare Arbeit erschienen,
obwohl nicht nur im anglikanischen, sondern auch im deutschen Sprachraum
großes Interesse an Reubke und seiner Orgelsonate vorhanden ist.
Chorzempas formale Analysen der Klavier- und Orgelsonate Reubkes sind
außerdem teilweise anfechtbar. Darüberhinaus war es notwendig,
die Quellendaten seiner Dissertation zu vervollständigen und auf
den aktuellen Stand zu bringen sowie manche Quellen vollständiger
auszuwerten. Bei genauen Vergleichen konnten zahlreiche kleine Fehler
verbessert werden (originale Orthographie, Dispositionen, Quellenangaben
etc.). Ferner wurde eine größere Übersicht der Daten
angestrebt, die es weiteren Arbeiten ermöglichen soll, problemlos
auf den derzeitigen Forschungsstand zurückzugreifen.
Der biographische
Teil über Reubke fußt wesentlich auf Chorzempa, bezieht aber
auch weitere Quellen ein. Bedeutende neue Quellen stellten ein biographischer
Bericht über die Familie Reubke samt einem weitverzweigten Stammbaum
sowie zahlreiche Fotos aus dem Familienkreis dar. Der Werkteil untersucht
die ersten Werke Trio Es-Dur, Mazurka E-Dur und Scherzo d-Moll und weist
die Existenz einer leider nicht erhaltenen, bisher nicht bekannten Ouvertüre
nach. Bei der Besprechung der Klaviersonate b-Moll und der Orgelsonate
c-Moll »Der 94. Psalm« erfahren die formale Anlage und die
kompositorischen Strukturen eine besondere Berücksichtigung, die
entgegen der bisher üblichen Darstellung weder ausschließlich
durch die Pendants im Lisztschen Schaffen (Sonate h-Moll für Klavier,
Fantasie und Fuge über »Ad nos, ad salutarem undam«
für Orgel) beeinflußt sind, noch deren Form übernehmen.
Übersichtslisten der Werke und diejenigen Ausgaben, die der Autor
lokalisieren konnte, sind den Besprechungen vorangestellt und in einer
eigenen Liste (Materialien) zusammengefaßt. Es folgen die Bibliotheksbestände
derselben (vornehmlich in Österreich und Deutschland), eine Übersicht
der in der Orgelsonate vorgeschriebenen Registrierangaben samt Dynamik,
die Dispositionen relevanter Orgeln (darunter den genauen ursprünglichen
und heutigen Registerfundus der berühmten Ladegast-Orgel im Dom
zu Merseburg), ein Literaturverzeichnis, Orts- und Namensregister sowie
der Stammbaum der Familie Reubke.
Der Großteil
der über einhundert im Kapitel "Bibliotheksbestände"
genannten Bibliotheken hat durch seine Bereitwilligkeit zur Auskunft
wertvolle Dienste für eine Liste der noch vorhandenen frühen
Ausgaben der Werke Reubkes geleistet. Sie liefert eine Übersicht
der erhaltenen Bestände, erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Besonderer Dank gilt Frau Frieda Richter-Reubke (Dornstadt) für
die Einsicht in die Aufzeichnungen ihres Vaters. Von eminenter Bedeutung
war die Bereitwilligkeit von Herrn Jochen Börner (Gotha), Zugang
zum Bildmaterial der Familie Reubke zu gewähren.
Michael
Gailit