Die Kunst des Improvisierens
besteht aus einer einzigen Frage: Auf welche Art und Weise kann ein
frei gewähltes oder vorgegebenes Thema verarbeitet werden? Diese
Frage zieht sogleich eine zweite nach sich: Warum ist man beim Hören
einer Improvisation allzu oft dazu verurteilt, das (recht und schlecht
harmonisierte) Thema einmal zu Beginn sowie ein zweites Mal gegen Ende
der Improvisation nach dem Motto: »Seht! Ich habe Euer Thema
verwendet ...« zu hören. Dazwischen jedoch ist nichts
... außer mühsamem Blabla, das beim Publikum eine tiefe,
unbewußte Langeweile hervorruft. Man muß deshalb imstande
sein, bei der Entwicklung eines Themas aus allen verfügbaren Ressourcen
Nutzen zu ziehen und diese melodische Linienführung oder jene rhythmische
Gliederung wählen. Das erfordert natürlich eine Meisterschaft
in der Beherrschung der musikalischen Form, eine vollendete Registrierkunst
durch das Wissen um die Möglichkeiten des Instruments (mit vollständiger
Ausschöpfung seines gesamten Klangspektrums) sowie nicht zuletzt
eine überaus reiche Erfahrung im kompositorischen Bereich, das
heißt in Harmonielehre, Kontrapunkt und Fugentechnik. Ein Improvisator
erreicht das höchste Können erst dann, wenn er fähig
ist, ein Werk auf den Tasten so wohlorganisiert wie auf dem Papier zu
verwirklichen. Natürlich muß er auch fähig sein, zu
komponieren ...
Die Noëls
variés erfreuten sich von Louis-Claude Daquin über
Marcel Dupré bis heute größter Beliebtheit. Es war
deshalb mein Wunsch, eine solche Noëlbearbeitung einzuspielen.
Ich habe aber versucht, aus der gewohnten Form auszubrechen und sie
mit einem Präludium versehen, das bereits die symphonische Verarbeitung
des Themas deutlich macht. Daran anschließend habe ich die übliche
Harmonisierung des Themas durch ein großes Ricercar ersetzt, eine
Form, in der die einzelnen Verszeilen fugiert verarbeitet werden. Der
jeweils letzte Themeneinsatz zitiert dabei in langen Notenwerten sowie
in einer anderen Registrierung den Cantus firmus. Es folgen dann die
eigentlichen Variationen.
Als die große
Orgel der Kathedrale Saint-Denis 1987 - nach mehr als fünfundzwanzigjährigem
Schweigen sowie ihrer 1983 begonnenen Restaurierung - wieder spielbar
war, äußerte der Erzpriester der Kathedrale, der auch für
meine Ernennung im November dieses Jahres verantwortlich war, den Wunsch,
den Wert des Instruments während des sonntäglichen Hauptamtes
zur Geltung zu bringen. Ich habe deshalb das Glück, fünfmal
während der Messe spielen zu dürfen. Die vorliegende Aufnahme
einer Grand-Messe zeichnet somit das gottesdienstliche Geschehen
nach, dem jeder Besucher am Sonntag in der Kathedrale von Saint-Denis
beiwohnen kann.
Thema der Dix Versets
de Vêpres ist »Ad regias Agni dapes«, die
Hymne der Osterzeit, die in den Vespern vom ersten Sonntag nach Ostern
bis zum Sonntag vor Christi Himmelfahrt gesungen wird (Zum königlichen
Festmahl des Lammes wollen wir in unseren weißen Kleidern Christus,
unseren Herrn, preisen).
Bei der Improvisation
»De Pierre à Pierre ...« handelt es sich
um eine Hommage von Pierre Pincemaille an Pierre Cochereau,
einem Genie der Improvisationskunst, der auf diesem Gebiet die zweite
Hälfte unseres Jahrhunderts grundlegend geprägt hat. Ich war
während der letzten zwölf Jahre seines Lebens von 1972 bis
1984 ein regelmäßiger Besucher nicht nur seiner Konzerte,
sondern auch der Meßfeiern in Notre-Dame und stand deshalb zwangsläufig
unter dem Einfluß des Gehörten. In diesem Zusammenhang sei
bemerkt, daß das regelmäßige Hören eines Vorbilds
unendlich wirksamer als jede beliebige Unterweisung ist: Die Improvisation,
eine von Natur aus angeborene Begabung, ist eine Kunst, die sich nicht
unterrichten läßt. Man kann aber an ihr arbeiten und sie
mit zunehmender Erfahrung verfeinern. Ich möchte deshalb alle mit
der Art Cochereaus vertrauten Hörer der vorliegenden Einspielung
bitten, nicht nur eine mögliche Kopie ihres Idols, sondern auch
das ehrliche, persönliche und kreative Credo des Interpreten wahrzunehmen
...
Im Verlauf dieser
Improvisation wird das Anfangsthema (die Noten, die den Buchstaben seines
Namens entsprechen) zunehmend von der Melodie eines wohlbekannten Chorals
überlagert. Der Grund dafür hat Symbolwert und wird den Kennern
von Pierre Cochereau offensichtlich sein. Monseigneur Emile Berrar,
1967 zum Erzpriester von Notre-Dame ernannt, war zur grossen Freude
von Pierre Cochereau der Initiator der Orgelkonzerte, die jeden Sonntag
vor der Abendmesse stattfanden. Als Berrar im Juni 1983 in Ruhestand
trat, wurde Jaques Perrier, der heutige Bischof von Chartres, sein Nachfolger.
Jaques Perrier hatte im darauffolgenden Jahr die Idee, eine öffentliche
Lesung des gesamten Matthäus-Evangeliums zu veranstalten, um den
Zeitraum von fünfundzwanzig Minuten zwischen der Vesper (die um
17 h zu Ende war) und dem Orgelkonzert zu füllen. Perrier bat nun
Pierre Cochereau, die einzelnen Lesungen, die zwischen dem 5. Februar
und dem 4. März an fünf Sonntagen stattfanden, musikalisch
zu kommentieren und so wurden sie mit insgesamt fünfundzwanzig
magischen Improvisationen des Meisters umrahmt. Für die letzte
Improvisation am 4. März 1984 hatte Pierre Cochereau eine besondere
Idee, indem er den berühmten, in Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion
zyklisch verarbeiteten Choral zum Thema nahm (jenen Choral, der auch
in meiner Hommage erklingt). Cochereau gab sich aber nicht nur mit der
Wahl dieses Themas zufrieden, sondern setzte dem Ende der Lesungen einen
markanten Schlußpunkt, indem er den Choral im Generaltutti seines
Instruments in Bachs Harmonisierung spielte und noch dazu von einem
Blechbläserensemble begleiten ließ, das er heimlich verpflichtet
hatte. Niemand wußte zu diesem Zeitpunkt (auch er nicht ? ...
), daß er mit der Musik des Leipziger Kantors Abschied von seiner
Orgel in Notre-Dame nahm. Er wurde in der Nacht von Montag auf Dienstag
(5./6. März 1984) zu Gott gerufen ...