Am Beispiel der Madrigale und seiner
Ersten Sonate bilden sich im Orgelschaffen von Jean-Pierre Leguay mit
seinen fixen Bezugspunkten, seinen vergleichbaren Eigenschaften, aber
auch seinem Mut zu Neuem die Konturen einer überaus persönlichen
Poetik heraus, die in einer einzigartigen Dialektik zwischen Hand, Ohr,
Vorstellungskraft und geistigem Umfeld des Komponisten Gestalt annimmt.
Auf durchaus subjektive Weise soll
in der Folge eine Annäherung an diese Dialektik versucht werden.
Zunächst einmal: alles klingt.
Die Erfahrungen des Komponisten als Interpret fließen in seine
Musik ein, sie berücksichtigen die räumlichen Besonderheiten
des Instruments. Das wirkt sich auf die Formgebung der Werke von Jean-Pierre
Leguay aus. Form ist bei ihm nicht Rückgriff auf vorhandene Modelle,
sondern sie wird erst am Zielpunkt einer Entwicklung begriffen, im Verlaufe
derer in subtiler Schattierung die Kontraste und deutlich gewordenen
Strukturen aneinandergereiht werden, gemäß einer Poetik,
die sich zugleich hedonistisch wie spekulativ darstellt, die sich dem
Genuß am Geschriebenen wie am Gehörten öffnet, ohne
je der Unklarheit anheimzufallen. Nichts ist zufällig, alles ist
wohl abgewogen.
Wenden wir uns kurz der musikalischen
Sprache Leguays zu. Sie ist frei atonal, bei Bevorzugung wenig oder
nicht oktavenorientierter Intervalle und läßt unter anderem
Einflüsse der Zweiten Wiener Schule (besonders Weberns), der radikalen
Stilperiode Messiaens der Fünfzigerjahre und Varèses erkennen.
Obzwar auch bei Leguay, wie bei den Genannten, die Trennung von vertikalem
und horizontalem Denken aufgehoben scheint (ein Akkord kann als zusammengezogene
Linie, eine Linie als aufgerollter Akkord verstanden werden), übernimmt
er nicht deren Syntax, sondern schafft eine eigene, in der ein spezifisches
Verhältnis zwischen Klang und Zeit entsteht.
Chromatik tritt in verschiedener
Gestalt auf: Zunächst als einfacher Cluster, mit dem bestimmte
Abschnitte beschlossen werden, indem ein harmonisch undifferenzierter
Bereich geschaffen wird, durch den das Stück von einem in den nächsten
Bereich getragen wird (siehe den Schluß des zweiten Abschnittes
von Madrigal II); oder aber, indem er durch die Dichte seines Materials
die vorangegangenen harmonischen Strukturen auflöst und so den
Schluß eines Werkes hervorruft (Ende der Ersten Sonate). Cluster
finden sich auch in dichten und perkussiven Abschnitten, in denen die
Geste zum Material selbst wird, im Sinne jubelnden Um-Sich-Schlagens,
das umso wirkungsvoller ist, als Leguay es ganz präzise bezeichnet
(siehe den dritten Abschnitt von Madrigal II). Gleichwohl bleibt der
Cluster ein marginales Element, das nur an besonderen Punkten eines
Werkes Anwendung findet, zumal Leguay differenziertere Klänge bevorzugt.
Die Zuordnung der konsonanten und
dissonanten Klänge im Klangganzen, ihre Räumlichkeit, die
internen Spannungen und Entspannungen, die sich aus ihr ergeben, indem
ihre konstitutiven Elemente durch sie verdunkelt oder aber ans Licht
gebracht werden - all dies ist, wie etwa in Varèses Hyperprism
oder Intégrales, aufs sorgfältigste ausgewählt. Bisweilen
wird ein Akkord zur Klangfarbe (Madrigal II, erster Abschnitt) - ein
Phänomen, das Leguays Klangsinn in besonderem Maße entspricht.
Sein Ohr erkundet diese Bereiche des Überganges, wie sie der Klanggeographie
der Orgel eigen sind, mutig und schöpferisch zugleich, bis in die
verborgensten Winkel. Hier ist der Ursprung für den Gebrauch bestimmter
Klangfarbenkombinationen zu finden, der sich auf Obertöne ohne
ihren Grundton beschränkt und der, je nach Lage der Klänge,
den Hörer in einen hohen Frequenzbereich führt, der vor Leguay
wenig genutzt worden war; oder die Klänge treten im mittleren,
respektive tiefen Bereich auf, die Harmonien um Mikrointervalle bereichert,
die aus der Erweiterung und Nuancierung von Stimmungsphänomenen
resultieren (siehe Madrigal V, vorletzter Abschnitt). Derselbe Wille
zur Wandlungsfähigkeit kennzeichnet auch die Gestaltung des musikalischen
Zeitablaufes, in Hinblick auf die übergeordnete Form wie auf den
Rhythmus.
Die Form erweist sich stets als
unvorhersehbar, klar gegliedert und reiht kontrastierende Abschnitte
aneinander, in denen eine übersehbare Anzahl von Elementen variiert
wird. Das Gleichgewicht und die Zielgerichtetheit des Ganzen wird durch
begrenzte Momente des Ungleichgewichtes gegliedert, mittels derer Brüche
den Verlauf des Werkes in andere Regionen versetzen und so Bewegung
erzeugen.
Das Metrum ist fluktuierend, sehr
plastisch und die diversen Gestaltungen, die sich in ihm entwickeln,
verweisen auf eine zentrale Charakteristik im schöpferischen Prozeß
bei Leguay: die Wiederholung. Diese wird zum Parameter, ebenso wie Harmonie,
Dauer, Klangfarbe, Linie oder Masse, und auch sie ist bewußt geformt.
So entsteht eine reiche Differenzierung, die von einer leicht wahrnehmbaren
Periodizität (oder Pulsation) bis zur aufgehobenen Zeit (um eine
Formulierung von Boulez zu zitieren) in raschem Passagenwerk oder harmonischen
Strömen reicht.
Ohne Problem lassen sich diese Erkenntnisse
über das Element der Wiederholung auf die höhere Ebene der
Struktur übertragen, wo es Leguay um den Verlauf von Bewegungseigenschaften
geht: So erweist sich die Spanne zwischen den Musiken, mit denen der
Komponist die beiden Sätze seiner Ersten Sonate beginnt, als besonders
aufschlußreich.
Die Gestaltung der Bewegungseigenschaften
bestimmt viele Strukturen: So erscheinen die Elemente eines Akkordes
in immer neuer Gestalt und Abfolge, wie bei einem Mobile von Caldar;
auch können sie auf ihr Umfeld einwirken und sich dergestalt ausbreiten,
wobei auch hier Brüche stets möglich bleiben. Diese Vorgänge
sind schon deshalb gut nachvollziehbar, als die Werke Leguays oft ihren
Ursprung in harmonischen, rhythmischen oder melodischen Keimzellen haben,
vergleichbar klar erkennbaren, klingenden DNA-Molekülen.
Dennoch gibt es freilich ’Mehr
Ding im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt,
Horatio’. So wird klar, daß für Leguay, in Umkehrung
des Wortes von Rimbaud, der Dichter vermittels einer klaren Ordnung
all seiner Sinne sehend wird, daß, will man einen wirksamen Rausch
erzeugen, ihn in feste Bahnen lenken muß und Askese wie Schlemmerei
am besten von der ’Poetik der Genauigkeit’ getragen werden.