Die Dynastie der Reuchsel
Erinnert man sich an die Musikerfamilie
Reuchsel, die mehr als ein Jahrhundert in Lyon präsent war (von
1852, als sich Vorfahre Johann Reuchsel hier niederließ, bis zum
Tod von Maurice Reuchsel im Jahr 1968), kann man sehr wohl von einer
Dynastie sprechen. Ihre Mitglieder waren nicht nur Organisten im Dienst
der Kirche, sondern auch engagierte Musikpädagogen, die mit bedeutenden
Persönlichkeiten ihrer Zeit in Kontakt standen.
Der erste bekannte Musiker der Familie,
Johann Reuchsel oder „Reuschel“, wurde 1791 in Deutschland
in Bettenhausen bei Schmalkalden-Meiningen (Thüringen) geboren.
Er war vielleicht ein Nachkomme des von François-Joseph Fétis
in seiner Biographie universelle erwähnten Johann Georg Reuschel,
der im oberschlesischen Annaberg sowie um 1667 in Markersbach (Erzgebirge)
als Kantor tätig war, zehn Messen komponierte und vermutlich mit
Heinrich Schütz in Kontakt stand.
Johann Reuchsel wirkte als Kapellmeister
am Königlichen Theater in Würzburg, übersiedelte 1824
nach Burgund und heiratete im Dezember 1825 in Nuits-Saint-Georges Marie-Anne
Poinet, mit der er sieben Kinder hatte: Félix (1826-1827), die
Pianistin und Dichterin Louise-Mélanie Reuchsel (1828-1860?),
den Lehrer für Klavier, Violine und Harmonielehre Félix
Reuchsel (1830-1917), den Cellisten Jean Reuchsel (1833-1876), den Organisten,
Musiklehrer, Autor einer Klavier- und Gesangsschule sowie Verfasser
einer Abhandlung mit dem Titel Le Trésor des Jeunes Musiciens
et Amateurs [Kostbarkeiten für junge Musiker und Musikliebhaber]
Ernest Reuchsel (1838-1914), den Organisten, Komponisten und Dirigenten
Léon Reuchsel (1840-1915) sowie den Lyoner Klavierbauer und Musikverleger
Joseph-Maurice Reuchsel (1848-1917).
Als Sohn Félix Geiger am Lyoner
Grand Théâtre wurde, übersiedelte auch Johann (Jean)
Reuchsel Anfang des Jahres 1852 nach Lyon, wo er als Musiklehrer an
die Institution des Chartreux verpflichtet und 1867 zum Organisten von
Saint-Georges ernannt wurde. Der Verfasser einer Harmonielehre sowie
Komponist von Messen und Streichquartetten, die nicht erhalten blieben,
starb am 15. März 1871 in Lyon.
Léon
Reuchsel (Foto: Archiv Günter Lade)
Léon Reuchsel, 1840-1915
Léon Reuchsel, am 11. Februar
1840 in Vesoul geboren, erhielt seine musikalische Ausbildung zunächst
beim Vater und anschließend in Paris als Schüler des Organisten
der Pfarrkirche Saint-Eustache, Edouard Batiste. Zurückgekehrt
nach Lyon stand er hier bis zu seinem Tod am 11. August 1915 im Organistendienst:
zunächst von 1859 bis 1861 an der neuen Orgel von Saint-Paul sowie
anschließend in der Kirche Saint-Bonaventure, wo am 15. Januar
1911 sein fünfzigjähriges Jubiläum als Titularorganist
groß gefeiert wurde.
Zusammen mit seiner Frau Marie-Félicité
(geborene Dieu) aus Dijon hatte Léon zwei Söhne, Amédée
und Maurice, die die musikalische Familientradition weiterführen
sollten.
1875 gründete und leitete Léon
Reuchsel 1875 die Lyoner Chorgemeinschaft La Lyre Sacrée, deren
Konzerte große Aufmerksamkeit erregten. Auch die Société
Sainte-Cécile mit Aufführungen großer Werke von Komponisten
wie Jules Massenet, Hector Berlioz oder César Franck wurde 1880
durch beide Künstler neu organisiert. Wie Maurice überlieferte,
dirigierte sein Vater beispielsweise am 15. Dezember 1889 die Messe
Solennelle von César Franck, der persönlich den Orgelpart
übernahm und das Konzert mit »sehr bemerkenswerten Improvisationen«
bereicherte.
Léon Reuchsel war auch mit weiteren
bedeutenden Künstlern seiner Zeit in Kontakt. Guilmant schrieb
ihm beispielsweise am 3. Januar 1909: »… Ich danke Ihnen
für den schönen Artikel, den Sie über meinen Auftritt
in der Salle Rameau verfasst haben. Der begeisterte Empfang der Lyoner
hat mich sehr gefreut …«, während ihm Franz Liszt 1881
antwortete: »Für die Einladung, mit der Sie mich beehren,
bin ich sehr dankbar, kann ihr aber zu meinem Bedauern nicht Folge leisten.
Von Mitte September bis Januar werde ich mich in die Villa d’Este
zurückziehen und dann auf schnellstem Weg zu meinen Verpflichtungen
nach Budapest heimkehren ...«.
Der Musiker war auch wiederholt Interpret
von Orgeleinweihungen sowie 1880 Autor einer Studie, die er zur Bedeutung
von Melodie, Rhythmus und Harmonie in der Musik aller europäischen
Völker vom Mittelalter bis zur Gegenwart schrieb. Unter dem Pseudonym
Pierre Heller widmete er sich auch der Dichtkunst und veröffentlichte
1915 - im Jahr seines Todes - Cinq poèmes d’actualité
mit sehr heftigen und wortreich gegen den damaligen Kriegsgegner Deutschland
gerichteten Versen.
Der sehr angesehene Musiker hinterließ
mehr als einhundert Klavierwerke, einige Orgelkompositionen, Motetten
sowie Lieder für Bariton mit Orgelbegleitung, eine Kantate, Stücke
für Chor und Orchester, acht Messen (eine mit Orchesterbegleitung),
eine Sonate für Violine und Klavier, zwei
lyrische Dramen sowie eine komische Oper.
Léon Reuchsel interessierte sich
auch für den Instrumentenbau, vor allem der Orgel, und war beispielsweise
1913 Fachexperte des jüdischen Konsistoriums für die Restaurierung
der Orgel in der Synagoge von Lyon. Wiederholt reichte er auch Patente
für Erfindungen ein: im März
1878 für einen Sonographen, mit dem er auf einem Tasteninstrument
gespielte Töne mittels eines Prägeverfahrens speichern und
wiedergeben konnte sowie 1881 und 1886 für ein Organophon, mit
dem Léon Reuchsel das Studium der Orgelmusik erleichtern wollte.
Amédée
Reuchsel (Foto: Archiv Marcel Degrutère)
Amédée Reuchsel, 1875-1931
Amédée, erstgeborener
Sohn von Léon Reuchsel, kam am 21. März 1875 zur Welt. Nach
ersten musikalischen Unterweisungen im Elternhaus sowie dem Besuch des
Lycée Ampère in Lyon studierte er in Brüssel am Königlichen
Konservatorium für Musik, wo er Schüler der bedeutenden Professoren
Joseph Dupont, Alphonse Mailly und Edgar Tinel war und seine Ausbildung
in Orgel, Harmonielehre und Komposition mit Ersten Preisen abschloss.
Amédée Reuchsel war auch
Schüler von Gabriel Fauré in Paris und wurde nach seiner
Rückkehr nach Lyon durch Wettbewerb Titularorganist der großen
Merklin-Orgel des Grand Temple sowie Organist der Orgel in der Kapelle
des Lycée Ampère.
1911 verließ er Lyon und übersiedelte
nach Paris, wo er im Oktober 1914 die Organistenstelle der Pfarrkirche
Saint-Denis-du-Saint-Sacrement übernahm, an der einst von 1869
bis 1881 Louis Viernes Onkel Charles Colin gewirkt hatte.
Der bekannte Musiker widmete sich Zeit
seines Lebens erfolgreich vor allem dem Komponieren und schrieb umfangreiche
Werke wie drei Sonaten und mehrere Konzertstücke für Orgel,
Chormusik, Lieder mit Klavier-, Orgel- oder Orchesterbegleitung, Orchesterwerke,
sehr erfolgreiche Kammermusik (für die ihm der Prix Chartier des
Institut de France verliehen wurde) sowie ein Oratorium, ein lyrisches
Drama, eine komische Oper und ein Ballett: Musik, die es heute wiederzuentdecken
gilt!
In verschiedenen Verlagen erschienen
theoretische Werke des am 10. Juli 1931 in Montereau verstorbenen Künstlers:
Théorie complète de la Musique [Umfassende Musiklehre]
- Questionnaire de la théorie [Fragen der Musiklehre] - Théorie
abrégée de la Musique [Kurzfassung der Musiklehre] - Solfège
classique et moderne [Elementare Musiklehre in Geschichte und Gegenwart,
18 für das Pariser Konservatorium geschriebene Bände] - Devoirs
de musique [Musikaufgaben].
Amédée Reuchsel war mit
Henriette-Emilie Decaen verheiratet, ihr einziger Sohn Eugène
wurde ein international überaus geschätzter Pianist und Komponist.
Maurice
Reuchsel (Foto: Archiv Reuchsel)
Maurice Reuchsel, 1880-1968
Maurice, der am 22. November 1880 in
Lyon geborene zweite Sohn von Léon Reuchsel, zeigte schon sehr
früh eine bemerkenswerte Begabung für die Musik im Allgemeinen
sowie für das Geigenspiel im Besonderen. Er absolvierte auf dem
Pariser Konservatorium die Klasse für Violine und kehrte anschließend
nach Lyon zurück, wo er zunächst seinen Vater bei Bedarf an
der Orgel von Saint-Bonaventure vertrat, dann während zehn Jahren
den Organistendienst der Pfarre Bon Pasteur versah und schließlich
bis 1950 Titular der großen Merklin-Orgel in der Pfarrkirche La
Rédemption war.
Maurice und Amédée Reuchsel
gründeten 1900 in Lyon eine Konzertreihe für alte und neue
Kammermusik sowie 1903 die Société Lyonnaise des instruments
anciens. Erwähnung verdient vor allem die 1903 gegründete
Zeitschrift Express Musical, die als Beilage des Lyoner Express Républicain
bis Juli 1914 zweiwöchentlich erschien, auf meist sechs Seiten
Berichte sowie aktuelle Informationen aus der Musikszene bot und in
ihrer Mitte jeweils ein eingebundenes Musikstück enthielt. Maurice
war Gründer und Redakteur, doch waren mit Beiträgen, Kritiken,
Bearbeitungen sowie Kompositionen von Léon und Amédée
Reuchsel tatsächlich alle Familienmitglieder an der bemerkenswerten
Publikation beteiligt.
Maurice Reuchsel starb am 12. Juli 1968
in Lyon und hinterließ zahlreiche Werke, von denen vor allem sein
1932 unter der Leitung von Gabriel Pierné uraufgeführtes
symphonisches Prélude de Cymodocée, Stücke für
Violine mit Klavier- oder Orchesterbegleitung, einige Orgelwerke sowie
Ballettmusiken genannt seien. Als Meister der Bratsche verfügte
er über ein reichhaltiges Repertoire von Musikstücken, die
er in eigenen Übertragungen und Harmonisierungen für die Bratsche
herausgab. Erwähnt seien aber auch seine zahlreichen musiktheoretischen
Werke: La musique à Lyon [Die Musik in Lyon], 1903 - L’école
classique du Violon [Klassische Geigenschule], 1906 - Un violoniste
en voyage [Ein Geiger auf Reisen], 1907 - Les Instruments à cordes
et à archet (violon, alto, violoncelle et contrebasse): monographie
et descriptions de ces instruments, leurs virtuoses et leur littératures
[Die Saiten- und Bogeninstrumente Geige, Bratsche, Cello und Kontrabass:
Monographie mit Beschreibung der Instrumente, ihrer Virtuosen und ihrer
Literatur], 1935 - Le violon à travers les siècles et
l’école classique du violon avec une note des violons des
principaux luthiers anciens et modernes [Geschichte der Geige durch
die Jahrhunderte mit Anmerkungen über die Instrumente der wichtigsten
alten und neuen Geigenbauer], 1938.
Eugène
Reuchsel (Foto: Claire Aniotz-Schlee)
Eugène Reuchsel, 1900-1988
Am 21. Juli 1900 in Lyon als Sohn von
Amédée Reuchsel geboren, hatte Eugène ein besonderes
Nahverhältnis zu seinem Großvater Léon, der ihm ab
seinem dritten Lebensjahr in Klavier unterrichtete und ihm musikalisch
bis zur Aufnahme in das Pariser Konservatorium mit Rat und Tat zur Seite
stand. Während seines gesamten Lebens brachte Eugène dem
Großvater große Verehrung entgegen.
Bereits sechzehnjährig erhielt
der Meisterschüler von Edouard Risler und Francis Planté
mit einstimmiger Entscheidung der Jury den Premier Prix de Piano sowie
den nur sehr selten vergebenen Prix d’excellence des Pariser Konservatoriums.
Die weitere enge Zusammenarbeit mit dem italienischen Pianisten, Komponisten
und Musikpädagogen Ferrucio Busoni prägte entscheidend die
Chopin- und Liszt-Interpretationen des jungen Künstlers. Er gab
Zeit seines Lebens etwa 5500 Konzerte, nicht nur in Frankreich, sondern
auch im nahen und fernen Ausland. Seine musikalischen Kreuzfahrten führten
ihn beispielsweise auch nach Nordafrika, in die Hauptstadt Senegals
an der afrikanischen Atlantikküste, in den zentralafrikanischen
Binnenstaat Tschad sowie in die ostafrikanische Republik Dschibuti.
Eugène Reuchsel war auch als
Komponist erfolgreich und schrieb für Klavier: Bourrées
sur des airs populaires français [Tänze über französische
Volkslieder] - Une Esquisse d’un thème à développer
[Skizze über die Verarbeitung eines Themas] - La Marseillaise -
Pièces symphoniques pour deux pianos [Symphonische Stücke
für zwei Klaviere]. Er komponierte Sätze für Volkslieder
französischer Provinzen und war Herausgeber Liszt’scher Klavierwerke,
die von ihm mit Fingersätzen sowie Anmerkungen zum Pedalgebrauch
versehen wurden. Daneben komponierte er aber auch meisterhaft große
Zyklen für Orgel.
Der bedeutende letzte Repräsentant
der Reuchsel-Dynastie starb am 22. September 1988 in Pollionnay nahe
Lyon.
Text: Pierre-Marie & Michelle
Guéritey
gekürzte Fassung aus: Les Orgues de Lyon (Inventaire national des
orgues), Editions Comp’Act, 1992. Abdruck mit freundlicher Genehmigung
der Autoren. Deutsche Übersetzung, Bearbeitung und Aktualisierung:
Günter Lade.