Die Cavaillé-Coll/Mutin-Orgel (1898/1919)
der Basilika Sacré-Coeur in Paris

 

Die Orgel der Basilika Sacré-Cour in Paris wurde ursprünglich für das in der Nähe von Biarritz auf einer Anhöhe über der Atlantikküste gelegene Schloss Ilbarritz des ebenso mysteriösen wie reichen Adeligen Albert de l'Espée erbaut und dort 1898 fertiggestellt. Sie war damals nach den Pariser Instrumenten von Saint-Sulpice (Cavaillé-Coll, 1862, V-P/100), Notre-Dame (Cavaillé-Coll, 1868, V-P/86) und Saint-Eustache (Merklin, 1879, IV-P/72) mit 70 Registern auf vier Manualen und Pedal die viertgrösste Orgel Frankreichs, doch handelte es sich in ihrer Konzeption nicht um eine Neuschöpfung, sondern vielmehr um die Kopie eines Instruments, das Aristide Cavaillé-Coll 1873 für die Royal Albert Hall im englischen Sheffield vollendet hatte und schliesslich bis 1898 wohl auf ausdrücklichen Wunsch des Barons de l'Espée ein zweites Mal verwirklichte. Beide Orgeln (das Sheffields Instrument wurde 1937 durch Feuer vernichtet) hatten mit nur geringfügigen Abweichungen identische Gehäuse, den gleichen technischen Aufbau und drei für das Schaffen Cavaillé-Colls einmalige Merkmale: drei Schwellwerke, Manualklaviaturen mit einem Umfang von 61 Tasten sowie eine imposante horizontale Zungenbatterie 16', 8' und 4', die durch den oberen Gehäuseaufbau verdeckt wurde. Auch die Dispositionen waren ähnlich aufgebaut, doch hatte die Kathedralorgel in dem nur 22 Meter langen, 14 Meter breiten und 17 Meter hohen Musiksaal des Schlosses Ilbarritz weniger Aliquot- und Mixturregister und mehr Grund­ und Zungenstimmen zu 16' und 8', bedingt einerseits durch die akustischen Gegebenheiten des zu kleinen Raumes, andererseits sicherlich aber auch auf Wunsch des Barons, der als begeisterter Anhänger der Musik Richard Wagners dessen Werke in Transkriptionen auf der Orgel zu spielen pflegte und deshalb wohl eine orchestrale Orgel gewünscht hatte.

 

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Baron de l' Espee (er besaß weitere Orgeln in Antibes, Paris und Monte Carlo) verkaufte die Schlossorgel um 1905 an Cavaille-Colls Nachfolger Charles Mutin, der ihm für Ilbarritz bis 1907 ein neues Werk mit 62 Registern, Stahlplattenspielen, Cembalo, Klavier und verschiedensten Instrumentenimitationen lieferte. Die einstige Schlossorgel kam dagegen im Saal der Orgelbaufirma in Paris zu stehen, wo Mutin die einseitig orchestrale Disposition nach dem Vorbild der Kathedralorgeln von Notre-Dame und Saint-Sulpice veränderte.

Im Jahre 1914 wurde das Instrument an die ihrer Vollendung entgegengehende Basilika Sacré-Cour verkauft, wo es - unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg - bis 1919 ohne jede weitere Modifikation in einem neuen Gehäuse auf der Südempore aufgestellt wurde (da der innere Aufbau unverändert geblieben war, erhielt der neue Prospekt die gleiche Gliederung wie das alte Gehäuse, dazu die Fassade eines stummen Rückpositivs zur Verdeckung des Spieltischs).

Hatte die Orgel im Ausstellungssaal der Firma Cavaillé-Coll/Mutin und anlässlich der Einwei hung der Basilika Sacré-Cour am 16. Oktober 1919 die uneingeschränkte Bewunderung von Albert Schweitzer, Emile Rupp, Charles-Marie Widor, Marcel Dupré und anderen namhaften Organisten und Orgelexperten erregt, so fiel sie im Dunkel der Basilika bald in einen jahrzehntelangen Dornröschenschlaf, da durch die Tag und Nacht währende Anbetung des Allerheiligsten Konzerte nur zu ganz seltenen Gelegenheiten stattfinden konnten. Erst das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufblühende Interesse an der so lange verpönten romantisch­symphonischen Orgel im allgemeinen und an der Klangästhetik Cavaillé-Colls im besonderen führten zur Wiederentdeckung der Sacré-Cour-Orgel, die sich nun allerdings in einem äusserst betrüblichen Zustand befand und nur mehr unvollständig spielbar war. 1930 und vor allem 1960 waren bei Wiederherstellungsarbeiten stilwidrige Eingriffe in die Disposition vorgenommen worden, dazu kamen technische Schäden durch eine moderne Heizungsanlage in der Kirche und eine völlige Verstaubung von Pfeifen und Mechanik, so dass eine grundlegende Restaurierung unumgänglich war. Der damalige Titularorganist Daniel Roth und eine von ihm 1978 gegründete Association widmeten sich dieser Aufgabe mit voller Kraft, bis der Restaurierungsauftrag an Orgelbaumeister Jean Renaud aus Nantes vergeben werden konnte. Im November 1980 begann der Abbau des Instruments, im Januar 1981 wurden das von Cavaillé-Coll stammende Material und die gesamte Konstruktion unter Denkmalschutz gestellt und die Restaurierung schliesslich 1985 beendet. Alles originale Material wurde sorgfältig instandgesetzt und der ursprüngliche Zustand von 1919 wiederhergestellt. Anstelle 1930 bzw. 1960 unvorteilhaft eingefügter Register kamen nach dem Vorbild der Dispositionen von Saint-Sulpice und Notre-Dame (1868) einige neue Stimmen zu stehen, die sich harmonisch in das Cavaillé-Coll/Mutin-Ensemble einfügen.

© Günter Lade (gekürzte Fassung des Booklet-Textes)

Disposition

 

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Fotos: © Günter Lade

 

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