Die vorliegende
Einspielung ist Werken Johann Sebastian Bachs gewidmet, die durch ihre
Bezeichnung, ihr Thema bzw. ihre Kompositionsstruktur eine Beeinflussung
durch die Musik französischer Meister erkennen lassen und deshalb
auf dieser CD mit vermutlichen Vorbildern der klassisch-französischen
Orgelkunst kombiniert wurden. Mit Ausnahme der Aria in F-Dur (BWV 587),
bei der es sich um eine notengetreue Bach’sche Transkription eines
Légèrement überschriebenen Satzes für
zwei Violinen und Basso continuo aus der 1726 erschienenen Triosonatensammlung
»Les Nations« von François Couperin handelt,
ist der französische Einfluß dabei mehr intuitiv als wissenschaftlich
eindeutig belegbar wahrzunehmen. Bach verfügte schon als junger
Komponist über die außergewöhnliche Kunstfertigkeit,
aus fremden Themen, Klangvorstellungen oder musikalischen Inhalten vollkommen
neue und eigenständige Werke zu schaffen, deren Großartigkeit
die initiative Idee fast vollständig vergessen läßt.
1700 wurde der damals
fünfzehnjährige Bach als Freischüler (»armer
Leute Kind ... so sonst nichts zu leben habe«) an die Lüneburger
Internatsschule aufgenommen, nachdem er 1694/95 seine Eltern verloren
und vorübergehend in Ohrdruf bei seinem älteren Bruder Johann
Christoph Unterschlupf gefunden hatte. Bei freier Unterkunft und Verköstigung
erhielt hier der Knabe durch die musikalische Praxis einen ausgezeichneten
Überblick über die kirchenmusikalischen Entwicklungen seit
Ende des 16. Jahrhunderts, während er gleichzeitig in den Fächern
klassische Literatur, Theologie, Latein, Griechisch, Rhetorik, Logik
sowie Französisch eine grundlegende Ausbildung erhielt. Französisch
war damals im Zeitalter Ludwig XIV. die Sprache des Hofes und der Diplomatie,
und so waren alle Schüler des Internats angewiesen, auch untereinander
ausschließlich französisch zu sprechen. Von größter
Bedeutung war damals für Johann Sebastian die Freundschaft mit
dem Tanzlehrer der Schule, Thomas de la Selle (einem Schüler des
1687 verstorbenen Versailler Hofkapellmeisters Jean-Baptiste Lully),
der neben seinem Schulamt auch als Geiger am Celler Hof des Herzogs
Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg tätig war und Bach
des öfteren nach Celle mitnahm. Da der Herzog eine musikliebende
Französin zur Gattin hatte, wurden unter der Leitung seines Kapellmeisters
Philippe La Vigne vorwiegend französische Werke des späten
17. Jahrhunderts musiziert. Johann Sebastian Bach lernte hier zahlreiche
Interpreten sowie ein ihm bis dahin unbekanntes Repertoire kennen, für
das zwar keine Namen belegt sind, das aber leicht rekonstruiert werden
kann: Marin Marais, Jean-Henri d’Anglebert, Michel-Richard Delalande,
Jean-Baptiste Lully, Nicolas de Grigny, François Couperin, Louis
Marchand etc.
Neben den musikalischen
Eindrücken französischer Hofmusik kam Bach in seiner Lüneburger
Zeit auch speziell mit französischer Orgelkunst in Berührung,
da er vermutlich gerade in diesen Jahren eine vollständige Abschrift
des 1699 publizierten »Livre d’Orgue« von
Nicolas de Grigny anfertigte und außerdem im Organisten der Lüneburger
Johanniskirche, dem berühmten Georg Böhm, einen brillanten,
in der französischen Orgel- und Verzierungskunst höchst versierten
Meister fand. Obwohl Bach niemals in Frankreich war, konnte er die französische
Musik 1700 bis 1702 in Lüneburg sowie Celle gleichsam an der Quelle
studieren, um sie in der Folge in einen kostbaren Bestandteil seiner
eigenen künstlerischen Persönlichkeit zu verwandeln.
Augenscheinlich
wird dies bei der berühmten Pièce d’Orgue
(BWV 572), die in einigen Abschriften mit »Pièce d’orgue
à 5 avec la Pedalle continu par J. S. Bach« überschrieben
ist und deren drei Sätze Bach mit den französischen Bezeichnungen
Très vitement, Gravement und Lentement
versah. Sucht man in dieser circa 1705/06 in Bachs Arnstadter Zeit entstandenen
Komposition nach konkreten französischen Elementen, so könnte
man den majestätischen, fünfstimmig polyphonen Mittelteil
als großartiges Grand Plein Jeu nach französischem Vorbild
bezeichnen. Erwähnung verdient hier der Pedalton H der Kontraoktave,
der im Gegensatz zu französischen Barockorgeln mit Ravalement auf
deutschen Orgeln der Bachzeit unausführbar war. Trotz der französischen
Bezeichnungen entspricht die Komposition formal jedoch mehr der norddeutschen
Tradition, wie sie Bach 1701 bei einem Besuch Jan Adam Reinkens in Hamburg
sowie während seines viermonatigen Aufenthalts bei Dietrich Buxtehude
in Lübeck 1705/06 kennengelernt und dann offensichtlich mit seinen
eigenen Vorstellungen französischer Orgelkunst kombiniert hat.
Nach Meinung des
Verfassers trifft dies auch auf die Variationen der Partita diverse
sopra ’O Gott, du frommer Gott’ (BWV 767) zu, die
etwa 1707 vielleicht noch in Arnstadt oder bereits an Johann Sebastian
Bachs neuem Wirkungskreis als Organist an der St. Blasiuskirche zu Mühlhausen
geschrieben wurde.
Mit Ausnahme der
kunstvollen Kanonischen Veränderungen über ’Vom Himmel
hoch, da komm ich her’ von 1746 beschäftigte sich Bach nur
in seiner Jugendzeit mit der vor allem von Georg Böhm meisterhaft
gepflegten Form der Choralpartita, wobei von der Bachforschung immer
wieder versucht wird, bei übereinstimmender Zahl von Partiten und
Liedversen die einzelnen Partiten als inhaltliche Ausdeutung der entsprechenden
Choralstrophe zu sehen. Scheint dies auch auf die ausdrucksvolle Chromatik
der vorletzten Variation und den Text der achten Liedstrophe (»Laß
mich an meinem End auf Christi Tod abscheiden«) zuzutreffen,
so sind weitere, für Bachs späteres Choralschaffen so typische
Zusammenhänge zwischen Text und Musik nicht zu erkennen. Die Partita
’O Gott, du frommer Gott’ präsentiert sich
vielmehr als lose Aneinanderreihung verschiedener Variationen, von denen
einige aufgrund ihrer Kompositionsstruktur und damit Registrierung von
den Sätzen einer klassisch-französischen Orgelsuite beeinflußt
sein könnten: Plein Jeu (Partita I, in unserer Aufnahme
à la française mit Cantus firmus im Pedal), Duo
oder Récit de Cornet (Partita II), Basse de Cromorne
(Partita VI) sowie Dialogue (Partita IX mit ihrem steten Wechsel
zwischen Grand Plein Jeu und Petit Plein Jeu).
In diesem Zusammenhang
sei daran erinnert, daß Bach stets sehr eigen zu registrieren
pflegte, wie dies unter anderem von Forkel überliefert wurde: »Seine
Art zu registrieren war so ungewöhnlich, daß manche Organisten
und Orgelmacher erschracken, wenn sie ihn registrieren sahen. Sie glaubten,
eine solche Vereinigung von Stimmen könne unmöglich gut zuammenklingen,
wunderten sich aber sehr, wenn sie nachher bemerkten, daß die
Or gel gerade so am besten klang und nur etwas Fremdartiges, Ungewöhnliches
bekommen hatte, das durch ihre [eigene] Art, zu registrieren, nicht
hervorgebracht werden konnte.« Zählten zu Bachs Registrierungen
auch solche im französischen Stil?
Es wurde bereits
erwähnt, daß Bach eine Abschrift des »Livre d’Orgue«
von Nicolas de Grigny anfertigte und somit mit der Musik des Titularorganisten
der Kathedrale zu Reims bestens vertraut war. Zu den Höhepunkten
in de Grignys Schaffen zählen seine Bearbeitungen über den
Hymnus Pange Lingua, von denen das berühmte Récit
[en taille] du Chant de l’Hymne précédent mit
der wunderbaren Ausdruckskraft der (wie bei de Grigny) reich verzierten
Choralbearbeitung O Mensch, bewein dein Sünde gross (BWV
622) aus Bachs Orgelbüchlein verglichen werden kann.
Die Fantasie c-Moll
(BWV 562) geht in ihrer Konzeption eindeutig auf eine für Petit
Plein Jeu geschriebene Gloriafuge de Grignys zurück, wobei
neben dem ähnlichen thematischen Beginn der beiden Kompositionen
auch auf die Fünfstimmigkeit des Satzes sowie die zahlreichen Vorhalte
verwiesen sei, die nicht nur als melodische Verzierungen, sondern vor
allem zur Verstärkung der harmonischen Effekte dienen. Auch die
der Fantasie folgende, mit nur siebenundzwanzig Takten unvollendet gebliebene
Fuge zeigt französischen Charakter, wobei es sich bei ihrem Thema
um die Umkehrung des Themenbeginns von Bachs berühmter Passacaglia
handelt!
Die ersten vier
Takte der Passacaglia (BWV 582) gehen wiederum auf ein »Christe.
Trio en passacaille« aus der »Messe du 2ème
ton« des in Paris wirkenden Komponisten André Raison
zurück, die von Johann Sebastian Bach auf acht Takte vervollständigt
und als Grundlage einer Komposition verwendet wurden, die mit ihren
zwanzig Variationen und der anschließenden Permutationsfuge (Thema
und zwei obligate Kontrapunkte im ständigen Wechsel der Stimmen)
nicht nur als Höhepunkt dieser speziellen Gattung, sondern darüber
hinaus auch zu den herausragendsten Meisterwerken der Orgelkunst aller
Zeiten gezählt werden muß. Erstaunlich ist die Tatsache,
daß es sich bei Bachs Passacaglia nicht um ein Spätwerk aus
seiner Leipziger Zeit (1723 bis 1750), sondern um eine relativ frühe
Komposition handelt, die dieser vermutlich 1717, seinem letzten Jahr
als Kammermusicus und Organist am Hof des Herzogs Wilhelm Ernst von
Sachsen-Weimar verfaßt hat. Am 5. August 1717 wurde Bach dann
als Hofkapellmeister an die Residenz des Fürsten Leopold von Sachsen-Anhalt
in Cöthen berufen, mit dem er auch wiederholt Reisen unternahm.
Im September 1717 hielt er sich beispielsweise in Dresden auf, wo er
unter anderem den bekannten Pariser Organisten und Komponisten Louis
Marchand treffen wollte, doch soll sich Marchand dem musikalischen Duell
der beiden Meister durch vorzeitige Abreise entzogen haben. Da Marchands
Name durch diese Begegnung einen festen Platz in der Biographie
Johann Sebastian Bachs gefunden hat, haben wir diese Einspielung um
dessen Dialogue ergänzt, da dieses Werk ein schönes
Beispiel für die kompositorische und klangliche Vielfalt sowie
Virtuosität der klassisch-französischen Orgelmusik ist.