Nach Riemanns Musiklexikon
gilt als Bearbeitung die Komposition, die als Neugestaltung eines Vorgegebenen
entstand, ohne die Vorlage als überholt abzuwerten. Kompositionen,
denen ein Thema, ein Lied, ein Choral zugrunde liegt, gehören zu
den Bearbeitungen ebenso wie eigene und fremde Werke oder Sätze,
die für andere, neue Zwecke dienstbar gemacht werden. Je nach Zeit
und Stil, je nach Mode und Geschmack entstanden so als musikalische
Bearbeitungen auch Transkriptionen oder Arrangements (= Umschriften
oder Einrichtungen für andere Besetzungen oder Instrumente).
Viele Gründe sprechen
für solche Bearbeitungen: für den Bearbeiter ist es die Liebe
zu einem bestimmten Werk oder zu einem Komponisten, auch eine davon
ausgehende Anregung zu anderer klanglicher Version, ein Sich-Messen
am Original, der Wunsch des besseren Bekanntwerdens einer Komposition,
schließlich die Verfolgung pädagogischer Zwecke; für
den Interpreten ist es eine Bereicherung der Literatur, ein technischer
Anreiz, eine Herausforderung seines Spieltriebs, die Freude an der Gestaltungsmöglichkeit
in unüblichen Bahnen.
Finden sich in der
Reihe der Bearbeiter auch illustre Namen wie Johann Sebastian Bach und
Georg Friedrich Händel, so hat doch die große Zeit solcher
Bearbeitungen für Orgel erst im 19. Jahrhundert begonnen und bis
etwa 1925 gedauert. Erinnert sei hier vor allem an Franz Liszt und Max
Reger. Nicht verschwiegen werden soll, daß es auch „erschröckliche“
Ergebnisse von Bearbeitungen für die Orgel gibt. Kenner und Könner
wie Alexandre Guilmant, Charles-Marie Widor oder William Thomas Best
rechtfertigen indes zur Genüge solches Tun.
Eine der mir eindrücklichsten
Bach-Interpretationen hörte ich auf einer alten Langspielplatte:
Louis Vierne an der Cavaillé-Coll-Orgel zu Notre-Dame in Paris.
Welche Größe und Tiefe offenbaren sich in den wenigen Takten
des kleinen e-Moll Präludiums! Als ideale Bach-Interpretation gilt
für vie le auch das schnörkellose, analytische Spiel Glenn
Goulds oder Pablo Casals Aufnahme der Cellosuiten. Zwischen diesen Interpreten
scheinen Welten zu liegen, und doch beweist sich gerade darin auch das
Gemeinsame: Das Verständnis von authentischer Interpretation ändert
sich entsprechend dem Zeitgeschmack und dem Stand der musikwissenschaftlichen
Forschung, doch wird eine große, überdauernde Interpretation
stets mehr als das rein korrekte Ausführen des Notentextes nach
neuen Erkenntnissen sein! Wer wüßte das nicht besser als
Organistinnen und Orgelspieler, finden wir uns doch auf jeder Kirchenempore,
in jedem Konzertsaal immer wieder vor einem ganz anderen Typ Orgel wieder,
was stets eine den jeweiligen Gegebenheiten angepaßte Wiedergabe
erforderlich macht. So komme ich also vom Urtext der neuen Bach-Ausgabe
und einem Konzert an einer Silbermann-Orgel zu diesem betörend
schönen Klang der symphonischen Behmann-Orgel in Dornbirn. Als
Musiker kann ich mir keine spannendere Abwechslung vorstellen!
Mit der Distanz einiger
Generationen können wir uns hier einen neuen Blick auf die Bach-Verehrung
und Bach-Verarbeitung unserer Lehrmeister erlauben. Keine ’Verirrungen’,
sondern ein Stück lebendige Musikgeschichte, deren Höhepunkte
es zu bewahren gilt.
Widors Orgelzyklus
»Bachs Memento« entstand 1925, also viele
Jahre nach der Komposition seiner großen Orgelsinfonien. Die Bachverehrung
Widors beschränkt sich keineswegs auf gute Kenntnis und Einführung
von Bachs Orgelwerken in den Unterricht des Pariser Konservatoriums.
Man kann hier durchaus von einer tiefen geistigen Durchdringung sprechen,
welche durch die freundschaftliche Begegnung mit dem Theologen, Organisten
und Wissenschaftler Albert Schweitzer weiter inspiriert wurde und fast
schon mystische Züge annahm. Der Titel Memento bezeichnet
sicherlich nicht nur erinnernde Huldigung, und keiner der sechs Sätze
beschränkt sich auf das schlichte Arrangement des Notentextes für
die Orgel. Vielmehr demonstriert Widor durch zum Teil erhebliche Eingriffe
in die Originalvorlage gewissermaßen eine Weiterentwicklung, einen
lebendigen Bach aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, aber auch ein sehr
persönliches Bekenntnis zu diesem seinem Vorgänger. In seinen
Bearbeitungen entsteht ein Orchestersatz, eine ausgefüllte Instrumentation,
stimmungsvolles Nachspüren und differenziertes Verästeln von
Stimmführungen. Mit der Auswahl von sechs Sätzen bezieht Widor
sich auf die jeweils sechsteiligen Bachschen Zyklen, die Wahl der Titel
und Tonarten stellt sie in einen sakralen Kontext und läßt
insgesamt an eine Totenmesse denken.