Viernes Lebensumstände, die
ihn während der Entstehung zu seiner Orchestersymphonie begleiteten,
zählen zu seinen schmerzvollsten und dunkelsten. Hatte er voller
Zuneigung seine zweite Orgelsymphonie 1902 noch Charles Mutin, dem Nachfolger
der Orgelbaufirma Cavaillé-Coll’s gewidmet, mußte
er wenige Jahre später die geheime Liaison entdecken, die sich
zwischen diesem und seiner Frau entwickelt hatte. Das katastrophale
Ende seiner Ehe wurde in den Sommerferien 1907, die Vierne in Juziers
in der Nähe von Mantes verbrachte, offenbar. Unter dem Eindruck
dieses Schicksalsschlages schrieb er die ersten beiden Sätze seiner
a-Moll-Symphonie, die zwischen Zornesausbrüchen im ersten Satz
bis hin zur depressiven Resignation im Lamento alle Stimmungen seines
damaligen Seelenzustandes ausdrücken. Für beide Sätze
fand Vierne in den Dichtungen Verlaines Entsprechungen. Trägt das
Motto des ersten Satzes noch Gefühle der Erinnerung an vergangene
Zeiten in sich: »O se peut-il qu’il ait été
/ des jours clairs et des nuits d’ été«
(Ach könnte doch Sommer sein / helle Tage und Sommernächte),
stürzt Vierne im Lamento in tiefste Lebensverneinung. Es zählt
zu Viernes berührendsten musikalischen Äusserungen: »Un
grand sommeil noir / tombe sur ma vie / Dormez, tout espoir / Dormez,
toute envie« (Ein großer schwarzer Schlaf / fällt
auf mein Leben / schlaft, all’ meine Hoffnung / schlaft, all’
meine Lust). Jahre später vertonte der Komponist diesen Text in
seinen Spleens et Détresses op. 38 für Gesang und Orchester.
Neben Charles Baudelaire gilt Verlaine
als bedeutendster Dichter des französischen Symbolismus, die für
Viernes Kompositionen als Textgrundlage dienten. Vierne gelang die Vollendung
seiner Symphonie erst ein Jahr später, im Sommer 1908 wieder in
Juziers. Ein wenig bukolisch, der symphonischen Dichtung des Zauberlehrlings
von Paul Dukas nicht unähnlich, präsentiert sich das Scherzo.
Ein kleines, poesievolles Fugato, das das Hauptthema des Finales vorentwickelt,
schließt harmonisch wortwörtlich mit den Schlußtakten
aus dem ersten Satz der zweiten Orgelsymphonie, nur diesmal in sanfte
Voix céleste-Klänge eingebettet. Das Finale, das sich ohne
Unterbrechung anschließt, wirkt in seinem Optimismus wie ein neuerliches
Hinwenden zum Leben, wie ein sich selbst Mut zusprechendes Bekenntnis
zur elangeladenen Leidenschaft. Solche Momente des Lichts sollten uns
erst wieder im strahlenden H-Dur-Finale aus Viernes sechster Orgelsymphonie
op. 59 begegnen.